Tief in meinem Herzen
und lächelte. Sie hatte ihn von einer anderen Seite kennengelernt. Und sie konnte nicht abstreiten, dass sie die Mischung dieser beiden so gegensätzlich erscheinenden Seiten an ihm unglaublich anziehend fand.
Der sintflutartige Regen der letzten Nacht war in einen feinen Nieselregen übergegangen. Beth hatte den ganzen Morgen mit Sophie im Kinderzimmer verbracht. Filomena hatte ihr ein paar Stunden nach dem Frühstück das Mittagessen gebracht und mit Adleraugen darüber gewacht, dass Beth alles aufaß. Langsam schob sich die Sonne hinter einer Wolke hervor und ein paar warme Strahlen fielen durch das Fenster.
„Komm, wir machen einen Spaziergang“, sagte Beth zu Sophie und zog ihr einen warmen Strampelanzug über. Zuhause in England ging sie jeden Tag mit Sophie an die frische Luft. Die Ein-Zimmer-Wohnung in dem heruntergekommenen grauen Block in East London war so vollgestopft, vor allem jetzt, wo sie auch noch das ganze Babyzubehör unterbringen musste, dass Beth regelmäßig das Gefühl bekam, ihr würde die Decke auf den Kopf fallen. Glücklicherweise gab es gleich um die Ecke einen großen Park, der in diesem dicht besiedelten Teil von London für die Anwohner wie eine grüne Oase war.
Teodoro trug ihr den Kinderwagen die Eingangsstufen hinunter, und schon waren sie unterwegs in den Schlossgarten. Im Tageslicht sah das Schloss gar nicht so düster aus, bemerkte Beth. Selbst die steinernen Köpfe der Wasserspeier wirkten jetzt im Sonnenlicht eher albern als bedrohlich wie am Abend zuvor.
Das Schaukeln des Kinderwagens hatte Sophie in den Schlaf gewiegt. Beth beschloss, sich noch ein wenig im Schlossgarten umzusehen. Der Garten war terrassenförmig angelegt, mit gepflegten Blumenbeeten, frisch geschnittenen Buchshecken, die die Kieswege säumten, imposanten Fontänen und weißen Marmorstatuen inmitten des üppigen Grüns.
Beth seufzte, als ihr bewusst wurde, was für ein wunderbarer Ort dies wäre, um ein Kind großzuziehen. Sie selbst wohnte zwischen graffitibesprühten Treppenhäusern, in denen sich Drogendealer trafen, und hässlichen Betonwänden. Für Sophie wäre es so viel schöner, wenn sie hier aufwachsen könnte. Nur wo würde sie selbst dann leben? Könnte sie möglicherweise nach Oliena ziehen und dort einen Job finden, damit sie in Sophies Nähe bleiben könnte? Dann müsste sie aber erst einmal Italienisch lernen.
Gedankenverloren schlenderte sie einen Kiespfad entlang, der sie zurück zum Schlosshof führte. Abrupt blieb sie stehen, als ein großes schwarzes Pferd vor ihr auftauchte. Auf seinem Rücken saß Cesario. In seiner schwarzen Lederkluft und dem wehenden schwarzen Haar bot er einen ziemlich imposanten Anblick. Seine rechte Hand steckte in einem dicken Lederhandschuh, der fast bis zu seinem Ellenbogen reichte. Selbst aus der Entfernung erkannte Beth deutlich die lange Narbe in seinem Gesicht. Sie ließ ihn noch wilder und verwegener erscheinen.
Irgendetwas an dieser ungezähmten Wildheit berührte Beth tief in ihrem Inneren. Er war der Mann ihrer geheimsten Fantasien: ein Pirat, ein Abenteurer, ein gefährlicher Gegner – und zweifellos ein leidenschaftlicher Liebhaber. Sie seufzte. Er war unerreichbar für sie, erinnerte sie sich. Dieses Wissen hinderte ihren Körper jedoch nicht daran, sich heimlich nach ihm zu verzehren.
Ihre Blicke trafen sich, und Beth stieg sofort das Blut in den Kopf. In diesem Moment ließ Cesario sein Pferd ein paar Schritte auf sie zu machen, und sie erschrak, als über ihr mit einem Mal ein großer Schatten auftauchte. Ein plötzlicher Luftzug wirbelte ihr Haar durcheinander. Es war ein Raubvogel, der über ihnen seine Kreise zog, um dann auf Cesarios behandschuhtem Arm zu landen.
Seine harten Gesichtszüge schienen für einen Moment etwas weicher zu werden, als er ihre Überraschung bemerkte.
„Das ist Grazia“, erklärte er mit seiner tiefen rauen Stimme, die bei ihr unmittelbar eine Gänsehaut verursachte. „Das darfst dich geehrt fühlen. Normalerweise kommt sie nämlich nicht, wenn ein Fremder in der Nähe ist.“
„Was für ein wunderschönes Tier“, sagte Beth bewundernd. „Was für ein Vogel ist das?“
„Ein Wanderfalke. Der schnellste aller Raubvögel. Grazia bedeutet Anmut. Sie ist nicht nur schnell und wendig in der Luft, sondern auch unglaublich anmutig beim Fliegen.“ Cesario lachte. „Um ehrlich zu sein, sie ist das einzige weibliche Wesen, das ich jemals wirklich geliebt habe.“
Macht er Witze? überlegte
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