Tiffany
Kartoffelschalen und Lebertran. »Diese Fehlgeburten … Hat sie das absichtlich getan? Sie war doch noch ein Kind.«
»Ein Kind?« Sie schnaufte verächtlich. »Sie hatte schon die halbe Welt bereist, zu der Zeit, als ihre Mutter noch lebte und Pieter angesehenes Mitglied eines Streichquartetts war. Sie hat ein Jahr lang die Europaschule in Rom besucht, Partys an der Riviera und so weiter. Von wegen, noch ein Kind.«
»Wie alt war sie, als Sie schwanger wurden?«
»Zwölf. Das war noch in dem Luftschloss in Bilthoven.«
»Aber dort haben Sie doch nur einen Monat lang ge wohnt?«
»Ich war schon schwanger, bevor wir geheiratet haben.«
Ich verkniff mir die nahe liegende Frage. »Was ist passiert?«
»Was passiert ist? Wir mussten raus, Pieter war gerade auf Tournee in Deutschland, und diese Aasgeier von Tes tamentsvollstreckern saßen unten im Erdgeschoss, um zu überwachen, dass wir ja nichts mitnahmen außer Pieters Büchern und seinen verdammten Noten, die in einem bleischweren Karton verpackt waren. Dieses Biest wusste genau, was sie tat. Sie behandelte mich, als sei ich ihre Dienstbotin. Sie hat sich geweigert, mir mit dem Karton zu helfen, und noch in derselben Nacht erlitt ich eine Fehlgeburt.«
»Das ist ja schrecklich«, sagte ich. »Aber sie war doch erst zwölf. Was hat denn Ihr Mann dazu gesagt?«
»Der hat sie natürlich in Schutz genommen, genauso wie Sie, mit dem Argument, sie hätte nicht gewusst, was sie tat, es sei doch alles so schwierig für sie, sie hätte dies und sie hätte das, sie sei doch noch ein Kind.« Ihre Augen funkelten vor Hass. »Sie spielte die Unschuld, aber wenn ihr Vater nicht in der Nähe war, brauchte ich ihr nur in die Augen zu schauen. Sie konnte mich reizen bis aufs Blut. Das zweite Mal war das Miststück schon fast sieb zehn, und da konnte selbst Pieter es nicht mehr schön reden.«
»Haben Sie damals schon hier gewohnt?«
Sie nickte. »Wenn Pieter da war, tat sie katzenfreund lich. Mich lehnte sie ab. Aber ich habe mein Bestes getan, wirklich, und als ich endlich wieder schwanger wurde, dachte ich: Vielleicht wird jetzt doch noch alles gut, schließlich sind wir dann eine Familie. Pieter freute sich und glaubte, dass seine Tochter vielleicht doch noch ler nen würde, mich zu mögen, wenn ich ihr ein Schwester chen oder ein Brüderchen schenkte.« Sie lachte höhnisch auf, ein hässlicher Laut. »Wenn Pieter nicht zu Hause war, kam sie nie vor zwei, drei Uhr nachts nach Hause, sie hatte einen Freund, einen wesentlich älteren Jungen …«
»Ging sie denn nicht zur Schule?«
»Natürlich ging sie zur Schule, sie ging überall hin, um nur ja nicht zu Hause sein zu müssen. Im Haushalt machte sie keinen Finger krumm. Wenn Pieter am Wochenende irgendwo einen Auftritt hatte, blieb sie bis mittags um zwölf im Bett liegen. Eines Samstags wurde ich so wütend, dass ich nach oben ging, um sie aus den Federn zu jagen. Sie fing an zu schreien und zu treten, und auf einmal trat sie mir mit voller Wucht in den Bauch.«
Sie fing an zu zittern und legte die Hände auf den Bauch.
»Ist sie daraufhin weggelaufen?«
»Pieter ergriff endlich einmal Partei für mich. Als er am nächsten Tag nach Hause kam, war es aus und vorbei, und zwar diesmal für immer. Ich habe keine Kinder und kann nie mehr welche kriegen, weil mich diese Missgeburt innerlich kaputt getreten hat.«
Sie kniff sich in den Bauch, als könne sie den Schmerz noch immer spüren und versuche, ihn zu unterdrücken, aber irgendwie wirkte ihre Geste unaufrichtig, als würden ihre Erinnerungen an die Schmerzen, an den Verlust ihrer Illusionen und ihrer ungeborenen Kinder von den viel heftigeren und aktuelleren Emotionen der Wut und des Hasses auf ihre Stieftochter überlagert.
Der kleine rote Lieferwagen, den mir CyberNel beschrieben hatte, stand schon an der verabredeten Stelle.
Ich parkte dahinter und rief sicherheitshalber noch einmal unter der Nummer von Theo Stolz an. Der Anrufbeantworter meldete sich mit dem bekannten Text. Stolz hielt sich noch in Belgien auf, die Luft war rein.
Ein junger Mann, den man für einen Angestellten der Telekom hätte halten können, saß in ein technisch aussehendes Fachbuch vertieft am Steuer des Lieferwagens. »Eddy?«
»Richtig.«
Er warf das Buch auf das Durcheinander hinter den Vordersitzen und stieg aus dem Auto. Er war klein, mager und ziemlich blass und hatte kurz geschnittene, rötliche Locken und neugierige Augen, mit denen er mich von Kopf bis Fuß musterte. »Du
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