Tiger Eye
annähernd, was sie enthüllte. Und er wollte es auch nicht wissen.
Als sie sprach, glaubte er, sie würde über ihren Kuss reden. Doch sie überraschte ihn erneut.
»Ich hätte es dir schon früher sagen sollen«, sagte sie zögernd. »Heute Morgen hat mich schon jemand anders angegriffen, noch bevor ich die Schatulle geöffnet habe.«
Dela schilderte ihm ihren Ausflug auf den Dreckmarkt, die alte Frau, die ihr die Schatulle verkauft hatte, und den merkwürdigen Mann, der die Transaktion beobachtet und dann versucht hatte, sie zu entführen.
»Das ist ganz einfach«, erklärte Hari mit sichtlichem Unbehagen. »Jemand weiß, dass du mich besitzt. Wenn sie dich töten, kehre ich in die Schatulle zurück und kann einen neuen Meister bekommen.«
Dela runzelte die Stirn. »Aber sicher ist dafür nicht dieselbe Person verantwortlich. Das Langmesser wurde schon vor Monaten gestohlen. Wer hätte vorhersehen können...« Sie machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach: »Ich meine, es ist einfach unlogisch anzunehmen, dass diese beiden Vorfälle etwas miteinander zu tun haben. Mich mit meiner eigenen Schöpfung zu töten ist weit persönlicher, als einfach zu versuchen, mich niederzuschlagen, damit die Schatulle den Besitzer wechseln kann. Außerdem wusste dieser Typ von heute Morgen wohl nicht, wer ich war.«
»Dann hast du zwei Probleme. Ich bitte dich um Entschuldigung, Delilah. Ich habe deine Schwierigkeiten noch vergrößert.«
»Hari, du hast mir das Leben gerettet.« Ihre Stimme klang tief, aufrichtig und ernst, und passte zu ihrer eigensinnigen
Miene. »Hör zu, wir finden schon einen Ausweg. Jedes Problem hat eine Lösung. Selbst dein Fluch.«
Er lachte, doch es klang kalt und leer. »Ich nehme an, du könntest die Schatulle zerstören.«
»Würde dich das befreien?«
»Das weiß ich nicht. Es könnte mich auch umbringen, aber ich würde lieber sterben, als weiter versklavt in dieser Finsternis zu vegetieren.« Diesen Ausweg hatte er noch nie zuvor auszusprechen gewagt.
Hari sah, wie sie darüber nachdachte. Und bemerkte auch, wie sie zögerte.
»Zu kämpfen scheint mir der bessere Weg zu sein.« Delas Stimme klang zuversichtlicher. »Du kannst nicht einfach aufgeben, Hari.«
»Und was weißt du vom Kämpfen?« Er formulierte diese Frage absichtlich grob. »Ich habe die letzten zweitausend Jahre als ein Besitztum verbracht, Demütigungen und Folter ertragen und Gräueltaten begangen. Du hast keine Ahnung, was das bedeutet.«
»Vielleicht nicht.« Dela kniff die Augen zusammen. »Aber ich weiß, was Feigheit ist, wenn ich sie sehe.«
Hari versteifte sich. »Beschuldigst du mich der Ehrlosigkeit?«
»Wenn du mich aufforderst, dich zu töten, ohne auch nur zu versuchen, einen Ausweg aus deinem Problem zu finden, ja, dann tue ich das.«
Ihre Worte trafen ihn. Hari stand auf, doch das Zimmer kam ihm plötzlich viel zu klein vor. Schließlich trat er ans Fenster und legte die Hände gegen das dünne Glas. Unter ihm breitete sich die Stadt aus, unaussprechlich fremdartig. Merkwürdige Objekte bewegten sich darin mit wundersamer Geschwindig-keit fort. Menschen, die aus dieser Höhe winzig wirkten, wimmelten in einer unvorstellbaren Zahl durch die Straßen. In diesem Augenblick hasste er all das.
»Was soll ich tun?«, grollte er.
»Lebe.« Sie stand auf und trat neben ihn. Er sah sie böse an.
»Für mich selbst leben, meinst du? Jeder, den ich kenne, ist gestorben. Ich bin ganz allein.«
Er erwartete ihren Ärger. Stattdessen blickte Dela ruhig und nachdenklich auf ihre Hände. Was fast noch schlimmer war.
»Ich kannte einmal ein Mädchen«, sagte sie schließlich. »Ein Waisenkind. Sie war ganz allein, so wie du. Ein sehr böser Mann hat sie entführt und in einem Erdloch unter seinem Haus eingesperrt. Sie blieb dort eine Woche in der Dunkelheit, während er ihr schreckliche Dinge antat. Furchtbare Dinge.« Dela schluckte schwer. »Aber weißt du, wie sie das überlebt hat? Sie hat gekämpft. Sie hat sich jedes Mal gewehrt, wenn er zu ihr kam, und eines Tages hatte sie Glück. Sie konnte entkommen.«
»Delilah«, stieß er entsetzt hervor. »Sag mir, dass nicht du dieses Kind warst.«
Ihr Lächeln war unendlich traurig. »Nein. Amy war meine beste Freundin. Sie ist jetzt tot. Nach all dem, was sie durchgemacht hatte, ist sie an einem seltenen Gehirntumor erkrankt. Sie hat nur sechs Monate gelitten. Aber auch diese Krankheit hat sie bekämpft.«
Schweigen senkte sich zwischen sie. Die Moral
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