Timm Thaler
davon widerhallte.
Die Prinzessin beugte sich jetzt weit aus dem Fenster vor, um
besser sehen zu können. Sie machte große Augen, aber sie blieb
ernst.
„Lache nicht, kleine Schwester!“ bat Timm sie insgeheim. „Laß
uns beide ernst bleiben, wenn alle Welt lacht!“
Aber Timm bat umsonst. Der traurige fremde König war so
ungeschickt, den Hund am Ende des Zuges zu streicheln, und
plötzlich schien er am Hundeschwanz mit der Hand haften zu
bleiben. Er erschrak und ergriff mit der freien Hand die Rechte des anderen Königs, des Vaters der Prinzessin. Nun klebten auch die
beiden Könige fest und bildeten das Ende des seltsamen Aufzuges.
Man merkte ihren zuckenden Bewegungen an, daß sie sich gern
wieder von diesem unbegreiflichen Zauber gelöst hätten. Aber es
gelang ihnen nicht. Sie mußten sich in ihre absonderliche Lage
schicken, und fast schien es, als fänden sie sogar Spaß daran.
Ihre Beine versuchten sich ungeschickt im Tanz, ihre
Mundwinkel zuckten, und mit einem Male fingen sie täppisch und
komisch zu hüpfen und dann prustend zu lachen an.
In diesem Augenblick klang vom Fenster herunter das Lachen der
Prinzessin. Musik setzte ein. Alles tanzte und hüpfte und lachte, und auch die Kinder im Saal lachten mit und trampelten vor Vergnügen.
Der arme Timm saß wie ein Stein in einem Meer von Lachen. Die
alte Frau Rickert neben ihm lachte so sehr, daß sie das Gesicht in die Hände nehmen und sich nach vorn überbeugen mußte, weil ihr vor
Lachen die Tränen aus den Augen kullerten.
In diesem Augenblick bemerkte Timm zum erstenmal, wie
ähnlich sich die Gebärden des Lachens und des Weinens sind. Und
er tat etwas Schreckliches: Er nahm sein Gesicht in die Hände,
beugte sich vornüber und tat, als lache er auch.
Und dabei weinte Timm. Er murmelte zwischen den Tränen:
„Schwester Prinzessin, warum hast du gelacht? Warum, warum hast
du gelacht?“
Als der Vorhang fiel und das Licht anging, nestelte die alte Frau Rickert ein Spitzentaschentuch aus ihrer Handtasche, tupfte sich das Wasser aus den Augen, gab dann das Taschentuch dem Jungen und
sagte: „Da, Timm, wisch dir auch die Lachträn’ ab. Hab’ ich ja
gewußt, daß du bei so einer Vors-tellung lachen würdest!“ Und die alte Frau sah ihren Sohn, den Herrn Rickert, triumphierend an.
„Ja, Mutter“, sagte Herr Rickert höflich. „Das war wirklich ein
guter Einfall von dir.“ Aber sein Gesicht war traurig, als er das sagte.
Er wußte, daß der Junge die alte Frau aus Gutmütigkeit und
Verzweiflung getäuscht hatte. Und Timm sah, daß Herr Rickert ihn
durchschaut hatte.
Zum erstenmal seit jenem verhängnisvollen Tag auf dem
Rennplatz stieg in dem Jungen eine ohnmächtige Wut gegen den
Baron Lefuet auf. Er verbiß sich geradezu in diese Wut und war
fester als je entschlossen, sein Lachen zurückzugewinnen – koste es, was es wolle!
ZWEITES BUCH
Verwirrungen
Teach me laughter,
save my soul!
Lehre mich lachen,
rette meine Seele!
Englisches Sprichwort
Elfter Bogen
Der unheimliche Baron
Zu Timms Erleichterung ging das Schiff am folgenden Tag nach
Genua ab. Die alte Frau Rickert winkte ihm von den Stufen der
weißen Villa nach, und Timm winkte zurück, solange er sie sehen
konnte.
Der Reedereidirektor brachte den Jungen selbst aufs Schiff. Er
hatte ihm Kleidung und Schuhe, eine Armbanduhr und einen
nagelneuen Seesack gekauft. Als er Timm auf der Mole die Hand
gab, sagte er: „Halt die Ohren steif, Junge! Wenn du in drei Wochen zurückkommst, sieht die Welt ganz anders aus. Dann wirst du gewiß auch wieder lachen. Abgemacht?“
Timm zögerte. Dann sagte er schnell: „Wenn ich zu Ihnen
zurückkomme, Herr Rickert, werde ich wieder lachen. Abgemacht!“
Er stammelte noch ein Dankeschön, weil ihm die Kehle wie
zugeschnürt war, und hastete dann über die Laufplanke an Deck.
Der Kapitän des Schiffes war ein mürrischer Mann, der gern trank
und im übrigen fünf gerade sein ließ. Er sah Timm kaum an, als der Junge sich vorstellte, und brummte: „Wende dich an den Steward. Er ist auch ein neuer Mann, und ihr habt zusammen eine Kabine.“
Timm, der zum erstenmal in seinem Leben ein Schiff betreten
hatte, irrte ratlos über eiserne Treppen, durch enge Gänge und über das Vorderund Achterdeck, um den Steward zu suchen. Die
Mannschaft des Dampfers trug keine Matrosenuniform. Sie
unterschied sich von den zahlenden Fahrgästen nur durch die
Arbeitskleidung. So wußte der Junge nicht
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