Titan 09
doch gar nicht andeuten, daß die Kinder sich in einer unbekannten Sprache verständigen. Wenn Emma einen Krakel hinmalt und sagt, das sei eine Blume, dann handelt es sich um eine willkürliche Regelung – Scott behält das im Gedächtnis. Beim nächstenmal malt sie den gleichen Krakel, oder sie versucht es zumindest – das ist alles.«
»Sicher«, sagte Jane zweifelnd. »Hast du bemerkt, daß Scott in letzter Zeit viel mit Lesen beschäftigt war?«
»Ich hab’s bemerkt. Aber nichts Ungewöhnliches. Weder Kant noch Spinoza.«
»Er schmökert, mehr nicht.«
»Nun, das habe ich in dem Alter auch getan«, sagte Paradine und ging zu den Vormittagsvorlesungen. Er aß zusammen mit Holloway zu Mittag (das wurde ihm zur täglichen Gewohnheit) und erzählte von Emmas literarischen Bemühungen.
»Hatte ich recht, als ich auf Symbolismus tippte, Rex?«
Der Psychologe nickte. »Völlig richtig. Unsere eigene Sprache stellt auch nur einen willkürlichen Symbolismus dar. Zumindest in ihrer Anwendung. Sehen Sie!« Er zeichnete eine sehr enge Ellipse auf seine Serviette. »Was ist das?«
»Sie meinen: Was stellt es dar?«
»Ja. Was stellen Sie sich darunter vor. Es könnte eine primitive Darstellung von – was sein?«
»Da gibt’s eine Menge«, sagte Paradine. »Der Rand eines Glases. Ein Spiegelei. Ein französisches Stangenbrot. Eine Zigarre.«
Holloway fügte seiner Zeichnung ein kleines Dreieck hinzu, dessen Spitze mit dem einen Ende der Ellipse verbunden war. Er schaute Paradine an.
»Ein Fisch«, sagte der prompt.
»Unser vertrautes Symbol für Fisch. Selbst ohne Flossen, Augen und Maul ist es erkennbar, denn wir sind konditioniert, diese bestimmte Form mit unserem geistigen Bild eines Fisches gleichzusetzen. Die Grundlage eines Bilderrätsels. Ein Symbol bedeutet für uns viel mehr als das, was wir tatsächlich auf dem Papier sehen. Was geht in Ihrem Kopf vor, wenn Sie diese Skizze sehen?«
»Nun ja – ein Fisch.«
»Machen Sie weiter. Was stellen Sie sich vor – alles!«
»Schuppen«, sagte Paradine langsam, während er in die Luft blickte.
»Wasser. Gischt. Ein Fischauge. Die Schwanz- und Seitenflossen. Die Farben.«
»Also stellt das Symbol viel mehr als nur die abstrakte Idee Fisch dar. Achten Sie darauf, daß es sich um den Bedeutungsinhalt eines Substantivs dreht, nicht um den eines Verbs. Handlungen sind mit Symbolen sehr viel schwerer auszudrücken. Ganz gleich – kehren Sie diesen Prozeß um. Stellen Sie sich vor, Sie wollen ein Symbol für ein bestimmtes Substantiv malen, sagen wir Vogel. Zeichnen Sie es!«
Paradine zeichnete zwei miteinander verbundene Bogen mit der Wölbung nach innen.
»Der kleinste gemeinsame Nenner«, meinte Holloway nickend. »Wir haben die natürliche Neigung zu vereinfachen. Vor allem, wenn ein Kind etwas zum erstenmal sieht und keine Vergleichsmaßstäbe hat. Es versucht, die neue Sache mit bereits Vertrautem zu vergleichen. Haben Sie schon mal darauf geachtet, wie ein Kind das Meer zeichnet?« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr fort: »Eine Reihe gezackter, kurzer Linien. Wie die oszillierende Linie auf einem Seismographen. Als ich den Pazifik zum erstenmal sah, war ich drei Jahre alt. Ich erinnere mich ziemlich deutlich daran. Er sah – schräg aus. Eine flache Ebene, die in einem Winkel gekippt war. Die Wellen waren regelmäßige Dreiecke mit der Spitze nach oben. Nun, ich sah ihn nicht so stilisiert, aber als ich mich später erinnerte, mußte ich irgendeinen vertrauten Vergleichsmaßstab finden. Und das ist die einzige Methode, die Vorstellung von einer völlig neuen Sache zu gewinnen. Das Durchschnittskind versucht, diese regelmäßigen Dreiecke zu zeichnen – aber seine Ko-Ordination ist dürftig. Es erhält ein Seismographen-Muster.«
»Und was bedeutet das alles?«
»Ein Kind sieht das Meer. Es stilisiert es. Es zeichnet ein bestimmtes begrenztes Muster, das für es das Meer symbolisiert. Vielleicht sind Emmas Kritzeleien auch Symbole. Ich will damit nicht sagen, daß für sie die Welt anders aussieht – klarer vielleicht und schärfer, lebhafter und mit schwächer werdender Wahrnehmung oberhalb der Augenhöhe. Was ich damit sagen will: Ihre Denkprozesse sind anders, so daß sie das, was sie sieht, in abnormale Symbole überträgt.«
»Sie glauben immer noch…«
»Ja, genau das. Ihr Verstand wurde ungewöhnlich konditioniert. Es kann sein, daß sie das, was sie sieht, in einfache, offensichtliche Muster zerlegt und diesen Mustern eine
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