Titan 09
etwas macht. Und wenn dieses Spielzeug sie gleichzeitig unterrichtet…
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts saß ein Engländer auf der grasbewachsenen Böschung nahe bei einem Fluß. Neben ihm lag ein zierliches Mädchen, das in den Himmel starrte. Sie hatte ein merkwürdiges Spielzeug zur Seite gelegt -und jetzt flüsterte sie ein wortloses kleines Lied, dem der Mann mit halbem Ohr lauschte.
»Was war das, mein Liebes?« fragte er schließlich.
»Nur etwas, was ich mir eben jetzt ausgedacht habe, Onkel Charles.«
»Sing es noch einmal.« Er zog ein Notizbuch hervor.
Das Mädchen gehorchte.
»Hat es irgendeine Bedeutung?«
Sie nickte. »Genau wie die Geschichten, die ich dir schon erzählte.«
»Das sind wunderschöne Geschichten, Liebes.«
»Und du wirst sie eines Tages in ein Buch schreiben?«
»Ja, aber ich muß sie ganz schön verändern, sonst würde sie niemand verstehen. Aber dein kleines Lied werde ich wohl nicht verändern.«
»Das darfst du auch nicht. Wenn du das tätest, hätte es keinen Sinn mehr.«
»Ich werde die Strophe auf keinen Fall verändern«, versprach er. »Doch was bedeutet sie?«
»Es ist der Weg nach draußen, glaube ich«, sagte das Mädchen zweifelnd. »Aber ich bin nicht sicher. Mein Zauberspielzeug hat mir das gesagt.«
»Ich möchte zu gern wissen, welches Geschäft in London dieses herrliche Spielzeug verkauft.«
»Mama hat es für mich gekauft. Sie ist tot. Papa kümmert sich nicht darum.«
Sie log. Sie hatte die Spielsachen eines Tages in einem Behälter gefunden, als sie an der Themse spielte. Und sie waren in der Tat wunderbar.
Ihr kleines Lied – Onkel Charles dachte, es hatte überhaupt keine Bedeutung. (Er war nicht ihr richtiger Onkel, ergänzte sie für sich. Aber er war nett.) Das Lied bedeutete sehr viel. Es zeigte den Weg. In diesem Augenblick würde sie tun, was das Lied sagte, und dann…
Aber sie war schon zu alt. Sie fand den Weg niemals.
Paradine hatte Holloway links liegen lassen. Jane hatte eine tiefe Abneigung gegen ihn entwickelt. Das war ganz natürlich, denn sie wollte vor allem ihre Ängste beruhigt sehen. Da Scott und Emma sich jetzt normal verhielten, war Jane zufrieden. Es war zum Teil Wunschdenken, dem sich Paradine nicht völlig anschließen konnte.
Scott brachte Emma immer noch alle möglichen Gegenstände und wartete auf ihre Zustimmung. Meist schüttelte sie den Kopf. Manchmal sah sie zweifelnd drein. Und ganz selten gab sie ihr Einverständnis zu erkennen. Dann folgte eine Stunde voll Geschäftigkeit; verrückte Kritzeleien auf Fetzen von Notizpapier -und nachdem Scott die Aufzeichnungen sorgfältig studiert hatte, ordnete er seine Steine, Maschinenteilchen, Kerzenstummel und verschiedenen Krimskrams immer wieder aufs neue. Jeden Tag räumte das Dienstmädchen sie weg, und jeden Tag begann Scott von vorn.
Er ließ sich dazu herab, seinem verblüfften Vater, der wenig Sinn und Zweck in diesem Spiel sah, ein wenig zu erklären.
»Aber warum muß der Kiesel ausgerechnet hier hin?«
»Er ist hart und rund, Vati. Er gehört dort hin.«
»Der hier ist auch hart und rund.«
»Nun, aber der ist mit Vaseline eingerieben. Wenn man einmal soweit ist, kann man einfach kein hartes, rundes Ding mehr sehen.«
»Was kommt jetzt? Die Kerze da?«
Scott sah ihn verärgert an. »Die kommt erst am Schluß. Als nächstes ist der Eisenring dran.«
Paradine kam das vor wie die Auskundschaftung eines Waldes, Hinweiszeichen in einem Labyrinth. Aber da war schon wieder der Zufallsfaktor. Logik – normale Logik – versagte gegenüber Scotts Absichten, als er das Gerümpel auf diese Art ordnete.
Paradine ging hinaus. Über seine Schulter sah er, wie Scott ein zerknülltes Papier und einen Bleistift aus seiner Tasche zog und zu Emma ging, die grübelnd in einer Ecke hockte.
Nun…
Jane war mit Onkel Harry zum Mittagessen gegangen, und an diesem heißen Sommertag konnte man wenig mehr tun als Zeitung lesen. Paradine ließ sich am kühlsten Fleck, den er finden konnte, mit einem Magazin nieder und vertiefte sich in ein paar Comics.
Eine Stunde später riß ihn Fußgetrappel oben im Haus aus seinem Halbschlaf. Scotts Stimme schrie triumphierend: »Das ist es, Schnecke! Mach weiter…«
Stirnrunzelnd stand Paradine auf. Als er in die Diele kam, klingelte das Telefon. Jane hatte versprochen anzurufen…
Seine Hand lag auf dem Hörer, als Emmas dünne Stimme vor Freude quietschte. Paradine verzog das Gesicht. Was, zum Teufel, war da
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