Titan 09
schien nach etwas zu greifen, daß niemand sonst sehen konnte.
Nach oben gereckt wie seit jenem lange zurückliegenden Tag, an dem Menschen die Figur aus dem Granit geschält hatten, um das Familiengrab mit einem Symbol zu schmücken. Ein Symbol für all das, was die letzten Lebensjahre des ersten John J. Webster verschönt hatte.
»Und wer auch immer lebt und an Mich glaubt…«
Jerome A. Webster fühlte den festen Griff seines Sohnes um seinen Arm, hörte das leise Schluchzen seiner Mutter, sah die Reihe der bewegungslosen Roboter, die ihren Kopf beugten – in Respekt vor dem Herrn, dem sie gedient hatten. Ihr Herr ging nun nach Hause, das letzte Zuhause für alle.
Benommen fragte Jerome A. Webster sich, ob sie verstanden – ob sie Leben und Tod verstanden –, ob sie verstanden, was es bedeutete, daß Nelson F. Webster hier in dem Sarg lag, daß ein Mann mit einem Buch Worte über ihn anstimmte.
Nelson F. Webster, der vierte des Webster-Zweigs, der auf diesem Gut gelebt hatte, der hier gelebt hatte und gestorben war, der es kaum einmal verlassen hatte – und jetzt fand er seine letzte Ruhestätte an dem Ort, den der erste von ihnen für alle übrigen vorbereitet hatte; für die lange Reihe der schattenhaften Nachkommen, die hier leben würden und all die Dinge und die Lebensweise pflegen würden, die John J. Webster vorbereitet hatte. Jerome A. Webster fühlte, wie sich seine Kiefermuskeln spannten, fühlte ein leichtes Zittern seinen Körper erfassen. Einen Moment lang brannten seine Augen, der Sarg flimmerte, und die Worte, die der Mann in Schwarz sagte, wurden eins mit dem Wind, der in den Pinien flüsterte, die wie zur Totenwache standen. In seinem Kopf stiegen Erinnerungen hoch – Erinnerungen an einen grauhaarigen Mann – wie er über Hügel und Felder schritt, wie er den Hauch eines jungen Morgens schnupperte, wie er breitbeinig, mit einem Glas Weinbrand in der Hand, vor dem flackernden Kaminfeuer stand. Stolz- der Stolz des Landes und des Lebens; und die Bescheidenheit und die Größe, die zusammen mit einem Mann seine lebenden Nachkommen verließen. Die Zufriedenheit gelegentlicher Mußestunden und die Sicherheit des Wollens. Unabhängigkeit sicherer Gewißheit, Annehmlichkeit vertrauter Umgebung, Freiheit großer Güter. Thomas Webster stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Vater«, flüsterte er, »Vater.« Der Gottesdienst war vorbei. Der schwarzgekleidete Mann hatte sein Buch geschlossen. Sechs Roboter traten vor und hoben den Sarg. Gemessenen Schritts folgten die drei dem Sarg in die Gruft, standen stumm, als die Roboter ihn in seine Kammer gleiten ließen, die winzige Tür schlossen und die Platte anbrachten, auf der zu lesen war:
NELSEN F. WEBSTER 2034 – 2117
Das war alles. Nur der Name und die Jahreszahlen. Und das, so dachte Jerome A. Webster bei sich, war genug. Es gab nichts, was sonst dort stehen mußte. Das hatten auch all die andern. Die, die in der Familienchronik aufgeführt waren – sie begann mit William Stevens, 1920 – 1999. Opa Stevens hatten sie ihn genannt, erinnerte Webster sich. Vater der Ehefrau des ersten John J. Webster, der selbst in dieser Gruft lag: – 1951 – 2020. Und nach ihm sein Sohn, Charles F. Webster, 1980 – 2060. Und dessen Sohn, John J. II, 2004 – 2086. Webster konnte sich an John J. II erinnern – ein Großvater, der mit der Pfeife im Mundwinkel neben dem Kamin schlief, immer in der Gefahr, daß seine Barthaare Feuer fingen.
Websters Augen wanderten zu einem anderen Schild. Mary Webster, die Mutter des Jungen an seiner Seite. Und doch kein Junge mehr. Er vergaß dauernd, daß Thomas jetzt zwanzig war. In rund einer Woche würde er zum Mars aufbrechen, so wie er selbst in jüngeren Jahren zum Mars aufgebrochen war.
Hier sind sie alle beisammen, sagte er zu sich selbst. Die Websters und ihre Frauen und Kinder. Hier im Tod beisammen, wie sie zusammen gelebt hatten: Sie schliefen inmitten des Stolzes und der Sicherheit von Bronze und Marmor, mit den Pinien draußen und der symbolischen Figur über der mit den Jahren grün gewordenen Tür.
Die Roboter warteten, standen stumm, jetzt, da ihre Pflicht getan war.
Seine Mutter schaute ihn an.
»Jetzt bist du das Oberhaupt der Familie, mein Sohn«, sagte sie zu ihm.
Er streckte die Arme aus und drückte sie fest an seine Brust. Oberhaupt der Familie – was davon übriggeblieben war. Nur noch die drei hier. Seine Mutter und sein Sohn. Und sein Sohn würde sie bald verlassen und zum Mars gehen. Aber er
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