Tochter Der Traumdiebe
Hannover, aber noch vor Hildesheim bog Bastable in kleine, gewundene Seitenstraßen ab. Er schaltete die Scheinwerfer ab und fuhr langsamer. Offenbar wollte er Zeit gewinnen.
Schließlich hielt er an einem Bach mit breiter, flacher Uferböschung, wo ich leicht hinuntersteigen und mich im eiskalten Wasser gründlich reinigen konnte. So kalt es auch war, ich fühlte mich danach wieder rein und trocknete mich mit den Handtüchern ab, die Bastable mir gab. Ich zögerte, als ich erkannte, dass er mir meine eigene Kleidung mitgebracht hatte.
Es war meine komplette Jägertracht, es fehlten nicht einmal die kniehohen Lederstiefel, die Tweedhosen und der Jägerhut, den ich mir unter dem Kinn festband. Ich sah vermutlich aus wie ein weißer Clown, der einen Landedelmann nachäfft, aber der Hut bedeckte wenigstens das weiße Haar, sodass ich nicht ganz so leicht zu erkennen war, falls man unsere Personenbeschreibungen inzwischen verbreitet hatte. Ich zog die derbe Jacke an und war zu allem bereit. Rein psychologisch gesehen fühlte ich mich allein schon aufgrund der Tatsache, dass ich wieder bekleidet war, erheblich mutiger. Natürlich hätte ich mit einer Schrotflinte unterm Arm erheblich besser ausgesehen als mit einem Langschwert, aber vielleicht würde es weniger auffallen, wenn ich es mit irgendetwas einwickeln konnte.
Bastable hatte das Auftreten und die Erscheinung eines erfahrenen Soldaten. Als ich zum Wagen zurückkehrte, studierte er kopfschüttelnd eine Landkarte. »Hier in der Gegend beginnen alle Städte mit einem ›H‹«, klagte er. »Ich habe sie durcheinander gebracht. Ich glaube, wir hätten in Holzminden rechts abbiegen müssen. Oder war es Höxter? Jedenfalls bin ich zu weit gefahren. Wir sind jetzt schon fast in Hannover. Bald beginnt der Tag und ich will den Wagen verstecken. In Detmold und Lemgo haben wir Freunde. Ich glaube, wir könnten noch vor Tagesanbruch in Lemgo sein.«
»Wollen Sie uns außer Landes bringen?«, fragte ich. »Ist das die einzige Möglichkeit?«
»Nun, darauf wird es wahrscheinlich hinauslaufen.« Bastables hübsches Gesicht mit der Adlernase legte sich in nachdenkliche Falten. »Ich hatte gehofft, noch heute Nacht den ganzen Weg zu schaffen. Das wäre wirklich ein großer Vorteil gewesen. Aber falls wir rechtzeitig in Lemgo eintreffen und dort untertauchen, werden wir Gaynor vielleicht noch entkommen. Klosterheim wird natürlich schnell erraten, wohin wir wollen, wenn der Wagen erkannt wurde. Aber ich habe wenig befahrene Straßen gewählt. Wir werden in Lemgo übernachten und müssten morgen Abend für den nächsten Abschnitt der Reise bereit sein.«
Ich fiel in einen erschöpften Schlummer, aus dem ich wieder auffuhr, als der Wagen über eine steile, schlecht unterhaltene Straße holperte. So gut er konnte wich Bastable den Schlaglöchern aus. Dann auf einmal zeichnete sich am Horizont die Morgendämmerung ab und ich sah vor mir eine ganz außergewöhnliche Ansammlung von Dächern, Kaminen und Erkern, neben denen Bek geradezu futuristisch ausgesehen hätte. Es war wie eine Zeichnung aus einem Märchenbuch. Mit unserem riesigen, modernen Automobil waren wir in die Welt von Hänsel und Gretel eingedrungen und in einem mittelalterlichen Märchen gelandet.
Wir hatten Lemgo erreicht, diese kleine, selbstbewusste Stadt, die jede Facette ihres schmucken Erscheinungsbildes auf höchst raffinierte Weise hervorzuheben verstand. Hinter der reizenden altmodischen Fassade verbarg sich jedoch eine düstere und schreckliche Geschichte. Ich war auf Wanderurlauben einmal oder zweimal hier gewesen, hatte mich jedoch wegen der Touristen nicht lange aufgehalten.
Von Sachsenburg her waren wir auf Umwegen gefahren und es war gut möglich, dass wir etwaige Verfolger abgeschüttelt hatten. Ich stellte keine Fragen. Ich war zu erschöpft und wusste außerdem, dass die Weiße Taube sehr vorsichtig vorgehen musste. Ich war zufrieden damit, dass ich im Augenblick von einem ausgedehnten Albtraum erlöst war.
Ich fragte mich, ob Lemgo für meine Befreier eine besondere Bedeutung hatte. Der Ort war das Sinnbild einer alten deutschen Stadt. Als befestigte Stadt, einst Mitglied der Hanse, hatte sie echte Macht besessen, doch jetzt war sie unwiderruflich ins Hintertreffen geraten und unterstand der Herrschaft der Grafen zur Lippe, mit denen wir über mehrere Ecken verwandt waren. Die Straßen waren ein wahres Wunder, denn die Einwohner schienen miteinander zu wetteifern, wer die schönste Häuserfront
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