Tod auf der Themse
Fenster - »ist
er geflohen. Den Rest kennt Ihr.«
»War das Fenster
gestern abend geschlossen?« fragte Athelstan.
»Aye. Geschlossen und
verriegelt.«
Athelstan breitete ein Laken
über den Toten und schloß die Bettvorhänge.
»Warum wollte sich Sir
Henry mit dem Kapitän eines Kriegsschiffes treffen?« fragte er.
»Das kann ich dir sagen«,
meinte Cranston. »Die Staatskasse ist beinahe leer. Großgrundbesitzer
und Kaufleute wie Sir Henry sind bereit, die Schiffe auszurüsten. Dafür
erhalten sie nicht nur die königliche Huld, sondern auch einen
gewissen Anteil an der Kriegsbeute. Ist es nicht so, Marston?«
Der Gefolgsmann nickte.
»Ein einträgliches
Geschäft«, fuhr Cranston gleichmütig fort, »welches
sicherstellt, daß die Kapitäne nicht nur die englischen
Seefahrer verteidigen, sondern ständig nach gut beladenen französischen
oder nach einzelnen unbefestigten Städtchen antlang der Seine oder
der Küste der Normandie Ausschau halten. Manchmal greifen sie sogar
zur Piraterie gegen englische Schiffe.« Cranston nahm den Biberhut
ab und drehte ihn in den großen Händen. »Wenn ein
englisches Schiff verlorengeht, kann man es schließlich jederzeit
den Franzosen in die Schuhe schieben.«
»So war Sir Henry
nicht!« fauchte Marston.
»Aye«, sagte
Cranston trocken. »Und der Kuckuck legt seine Eier nicht in fremde
Nester.«
Der Coroner verstummte, denn
es klopfte an der Tür. Eine junge Frau kam herein, weiß wie ein
Laken, mit strohblonden, offenen Haaren. Sie war erregt, verschränkte
zunächst die Finger ineinander und spielte dann nervös mit den
Silbertroddeln am Gürtel an ihrer schmalen Taille. Der Blick ihrer
rotgeränderten Augen huschte zu dem großen Vierpfostenbett. Bei
ihrem Eintritt erhob sich Marston.
»Es tut mir leid«,
stammelte sie und wischte sich die Hände am feinen Taftbesatz ihres
hochgeschlossenen Kleides ab.
Athelstan ging zu ihr hinüber
und nahm ihre Hand. Sie war eiskalt.
»Kommt«, sagte er
sanft. »Setzt Euch lieber.« Er führte sie behutsam zu dem
Schemel, den Marston freigemacht hatte. »Möchtet Ihr Wein?«
Die junge Frau schüttelte
den Kopf. Ihr Blick war immer noch auf das Bett gerichtet.
»Das ist Lady Aveline,
Sir Henrys Tochter«, erklärte Marston. »Sie hielt sich im
Nebenzimmer auf, als Ashby hier war.«
Athelstan hockte sich nieder
und schaute in Avelines Rehaugen.
»Gott schenke ihm die
ewige Ruhe, Mylady; Euer Vater ist tot.«
Die junge Frau zupfte an
einem losen Faden an ihrem Kleid und begann lautlos zu weinen. Tränen
rollten ihr über die Wangen.
»Ich will ihn nicht
sehen«, wisperte sie. »Ich kann es nicht ertragen, ihn zu
sehen - nicht in einem blutgetränkten Nachthemd.« Sie sah
Marston an. »Wo ist Ashby?«
»Er hat Asyl in der
Kirche gesucht.«
Plötzlich brach draußen
im Gang Tumult los. Die Tür wurde aufgestoßen, und eine
hochgewachsene Frau mit stahlgrauem Haar kam hereingerauscht. Eine zweite
Frau folgte ihr; sie war von ganz ähnlicher Erscheinung, aber weniger
stürmisch. Beide Frauen trugen schwere Mäntel mit zurückgeschlagenen
Kapuzen. Der Wirt folgte ihnen und wedelte aufgeregt mit den Händen.
»Das solltet Ihr nicht!
Wirklich nicht!« prustete er.
»Ruhe!« brüllte
Cranston. »Wer seid Ihr?«
Die erste, größere
der beiden Frauen reckte die Schultern und schaute Sir John ins Gesicht.
»Mein Name ist Emma
Roffel, Gemahlin des verstorbenen Kapitän Roffel. Ich will zu Sir
Henry Ospring.«
Cranston verbeugte sich.
»Madam, mein Beileid zum Tode Eures Gatten. War er ein kränklicher
Mann?«
»Nein«, erwiderte
sie schnippisch, »er war gesund wie ein Schwein.« Sie machte
schmale Augen. »Ich kenne Euch. Ihr seid Cranston, Sir John
Cranston, Coroner der Stadt London. Was ist hier passiert? Dieser Kerl«
- sie deutete auf den Wirt - »sagt, Sir Henry sei ermordet worden.«
»Ja.« Athelstan
schob sich taktvoll dazwischen, denn er sah den Ausdruck in Cranstons
Gesicht. »Sir Henry wurde ermordet, und wir haben den Schuldigen.«
Emma Roffels Miene entspannte
sich. Athelstan musterte sie neugierig. Sie war ziemlich hübsch, fand
er, auf eine erschöpfte Art und Weise. Er war stets fasziniert von
Frauengesichtern, und Emma hatte ein kraftvolles Antlitz mit einer ausgeprägten
Adlernase und einem kantigen Kinn. Die Blässe betonte die glänzenden
dunklen Augen,
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