Tod auf der Themse
dann? Als ich in Sir Henrys
Kammer war, sah ich, daß das Fenster verschlossen gewesen war, bis
Ihr es zu Eurer Flucht benutztet. Infolge dessen bezweifelte ich, daß
jemand in das Zimmer eingebrochen ist. Sir Henry war zudem ein kräftiger
Mann, und es gab keinerlei Spur eines Kampfes. Schlußfolgerung: Der
Mörder muß jemand gewesen sein, der das Recht hatte, sich in
Sir Henrys Nähe aufzuhalten. Und wer bleibt da übrig außer
Euch, Lady Aveline?«
»Oh, mein Gott, man
wird sie hängen!« flüsterte Ashby. »Niemand wird
ihre Geschichte glauben.«
»Laßt es mich
versuchen«, sagte Athelstan. »Mylady?«
»Jawohl, ich habe
meinen Vater ermordet«, gestand sie. »Um genau zu sein: Er war
mein Stiefvater. Der erste Mann meiner Mutter, mein leiblicher Vater, fiel
im Krieg des Königs in Frankreich. Zunächst war alles gut. Ich
war das einzige Kind. Ich glaube, meine Mutter bereute, daß sie
wieder geheiratet hatte, aber sie starb vor acht Jahren. Im allgemeinen
ließ Sir Henry mich in Ruhe. Er sorgte für mich. Ich war verwöhnt,
ja, verzärtelt. Aber…« Sie nestelte nervös an ihrem
Armband. »Als ich älter wurde, sah er mich nach und nach mit
anderen Augen an. Anfangs war es nichts Großes … er bat mich,
auf seinem Schoß zu sitzen, während er mir das Haar
streichelte. Manchmal berührte er mich auch an gewissen Stellen und
sagte, das sei unser Geheimnis.« Aveline blinzelte, um die Tränen
zurückzuhalten. »Ich hatte alles«, fuhr sie fort. »Das
heißt, alles außer einer Zofe. Er wollte es so. Und je älter
ich wurde, desto größer wurden seine Ansprüche an mich.
Ich ging ihm aus dem Weg, aber manchmal konnte ich es nicht. Am Abend vor
seinem Tod, als er in der Herberge ›Zum Abt von Hyde‹ saß,
befahl er mir, im Morgengrauen zu ihm zu kommen, denn er wolle mir jetzt
etwas Kostbares geben, das einst meiner Mutter gehört
habe. Ich hätte es wissen müssen.« Avelines Unterlippe
zitterte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er war
so verderbt!« flüsterte sie. »Er versuchte, mich zu
umarmen und legte mir seine Hand auf die Brust. Die ganze Nacht habe ich
wachgelegen, behauptete er, und an mich gedacht. Und dann…«
Athelstan spürte Ashbys
wachsende Anspannung. Er tätschelte das Handgelenk des Mädchens.
»Erzählt es mir
einfach«, sagte er sanft.
»Er sagte, hoffentlich
sei ich so gut wie meine Mutter, und dann versuchte er, mich über
seinen Schoß zu ziehen. Da sah ich den Griff seines Dolches, der aus
einem Haufen Kleider auf einem Stuhl ragte. Alles ging ganz schnell. Ich
packte den Dolch, und im nächsten Augenblick steckte die Klinge tief
in seiner Brust. Er starrte mich an, als könne er nicht fassen, was
da passiert war, und dann sackte er zu Boden. Ich muß eine Zeitlang
dagestanden und ihn nur angeglotzt haben. Es war wie in einem Traum. Ich
zwickte mich immer wieder, um mich aufzuwecken. Es war so sauber, so
schnell abgegangen; ich hatte nicht einmal einen Blutspritzer an der Hand
oder auf meinen Kleidern. Da klopfte es an der Tür…«
»Das war ich«,
unterbrach Ashby rasch. »Ich war im Zimmer nebenan. Ich hörte,
wie Aveline den Gang hinunterging, und dann gab es ein dumpfes Geräusch,
als sei jemand hingefallen. Ich lief in Sir Henrys Zimmer. Da erzählte
Lady Aveline mir, was sich zugetragen hatte.«
»Ich habe bisher nicht
gewagt, etwas zu sagen«, flüsterte die junge Frau. »Wer würde
mir denn glauben? Ich kannte Nicholas Ashby, und ich liebte ihn, aber das hielt ich geheim. Sir Henry hätte
uns sonst beide umgebracht.«
»Ich stieß sie
aus dem Zimmer«, fuhr Ashby fort. »Als sie draußen war,
versuchte ich, den Dolch herauszuziehen, aber da hämmerte Marston an
die Tür.« Verachtungsvoll nickte Ashby zur Kirchentür.
»Er war ganz aus dem Häuschen. Er hätte mich aufhalten können,
aber er brüllte nur: ›Mörder! Mörder! ‹ Ich
riß das Fenster auf und floh.«
Athelstan erhob sich. Was
Aveline erzählt hatte, erschreckte ihn eigentlich nicht so sehr.
Immer wieder war ihm im Beichtstuhl die gleiche Sünde in allen ihren
Spielarten begegnet - Bruder und Schwester, Vater und Tochter. Es war eine
natürliche Folge des engen Zusammenlebens. Aber wer würde
Aveline glauben? Sir Henry hatte sich dessen schuldig gemacht, was die
Theologen als ›die große, geheime Sünde‹
bezeichneten: des Inzests, viel geübt, aber nie
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