Tod in Blau
sie vorsichtig.
Der Junge zog hörbar die
Nase hoch. »Hier wohnt sonst keiner. Aber er wohnt auch nicht
richtig da. Nur manchmal.«
Sie konnte sich ungefähr
zusammenreimen, wovon er sprach, und nutzte die Gelegenheit. »Wenn
du mir zeigst, wo das Haus des Malers ist, bekommst du Geld für
Bonbons.«
Der Junge biss sich auf die
Lippen.
»Gefällt dir das
etwa nicht?«, fragte Thea, die langsam die Geduld verlor.
»Doch, ich muss
eigentlich - ach, komm mit.« Er stapfte vor ihr her über das
feuchte Laub, das den Boden schon wie ein glänzender rotbrauner
Teppich bedeckte. Hoch über ihnen wölbten sich die Kronen der
Buchen, und Thea dachte flüchtig, wie schön es im Sommer hier
sein musste. Doch jetzt war es nur trübe und neblig.
Worauf hatte sie sich bloß
eingelassen? Die Vorstellung, an einem nassen Herbstabend mit einem zurückgebliebenen
Jungen durch den Wald zu marschieren, um sich von einem Mann malen zu
lassen, den sie nur einmal gesehen hatte, behagte ihr plötzlich nicht
mehr. Andererseits hatte sie immer einen Hang zum Wagnis besessen, sonst hätte
sie sich wohl kaum unbekleidet auf eine Bühne getraut.
In der rheinischen
Provinzstadt, in der sie aufgewachsen war, hatte sie zwar Tanzunterricht
genommen, doch der bereitete sie keineswegs auf die Ansprüche eines
Großstadtpublikums vor. Nach dem Krieg wollten die Menschen
Ablenkung um jeden Preis, Sensationen, buntes Vergessen. Selbst die Kunst
musste rauschhaft sein, das Alltägliche war verpönt. Und es war
nicht einfach, sich gegen die brillante Konkurrenz zu behaupten - in einer
Stadt, in der Tänzerinnen wie Anita Berber und Valeska Gert bejubelt
wurden.
Aber sie lernte schnell und
studierte mit ihrem Partner Stephan Castorff ein Programm mit dem Titel
Revolutionen ein, das sie in einem winzigen angemieteten Theater aufführten.
Sie verarbeitete darin die Erlebnisse während der Novemberrevolution,
Eindrücke von Straßenkämpfen und Blutvergießen, von
gewaltsam vorrückenden Ordnungskräften und aufgebrachten
Arbeitern, alles noch roh und ungeschliffen, aber von großer
Ausdruckskraft, wie eine Zeitung bemerkte.
Danach war alles ziemlich
schnell gegangen. Sie wurde zu den richtigen Gesellschaften eingeladen,
bei denen sie mit Stephan tanzte oder auch nur als schöne Staffage
diente, was sie nicht weiter kümmerte. Sosehr sie den Tanz liebte, so
empfänglich war sie auch für den Luxus, dem diese Kreise frönten.
Sie genoss es, in schönen Kleidern mit eleganten Männern zu
tanzen, Champagner zu trinken und sich in noblen Automobilen nach Hause
bringen zu lassen. Stephan schmollte zuweilen, weil er fürchtete, sie
als Partnerin zu verlieren. Doch die Entgegnung, sie werde wohl eher ihn
an einen dieser Herren verlieren als umgekehrt, ließ ihn
unweigerlich verstummen.
Thea war so in Gedanken
versunken, dass sie dem Jungen, der abrupt stehen geblieben war, auf die
Ferse trat. Er zeigte auf ein schlichtes, weiß verputztes Häuschen,
das durch die großen Fenster und das Oberlicht im Dach auffiel. Es
stand auf einer kleinen Lichtung. Einen richtigen Weg schien es nicht zu
geben.
»Danke.« Sie gab
dem Jungen das versprochene Geld.
Er winkte noch einmal kurz
und verschwand zwischen den Bäumen.
Als sie sich umdrehte, sah
sie Arnold Wegner in der Tür seines Ateliers stehen. Attraktiv war er
nicht gerade. Die seltsame Frisur - eine Art Topfschnitt -, der zu breite
Mund, die gedrungene Gestalt. Und doch wirkte er anziehend, wie er in
seinem Kittel dastand, die Arme verschränkt, in sich ruhend, und ihr
gelassen entgegensah.
»Guten Tag, Fräulein
Pabst. Wie ich sehe, haben Sie mich mühelos gefunden.«
Sie ging auf ihn zu und gab
ihm die Hand. »So würde ich es nicht ausdrücken. Ich hatte
Hilfe.« Auf seinen erstaunten Blick fügte sie hinzu: »Ein
Junge hat mich hergeführt. Er schien Sie zu kennen.«
»Ach ja, der Paul. Er
kommt öfter her.«
»Er ist ein bisschen
langsam, oder?«
Wegner machte eine einladende
Geste ins Atelier. »Ja, aber ich mag ihn. Er ist aufrichtig. Was man
von den meisten Leuten nicht behaupten kann.«
Thea hängte ihren Mantel
über eine Stuhllehne und schaute sich um. Dann trat sie
vor die Staffelei. »Das geht mir ähnlich. Die Leute reden viel
Unsinn, wenn sie sich als Kenner geben. Aber kann man wirklich erwarten,
verstanden zu werden? Ich höre meistens weg, wenn andere
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