Todesahnung: Thriller (German Edition)
um meine Gefühle im Zaum zu halten.
Ich flehe mich an: Bleib ruhig! Denk an was Schönes, wenn das möglich ist.
Ich dränge die Vision von plätschernden Bächen und schlafenden Kindern zur Seite und hole mir genau das auf meinen Schirm, was immer funktioniert: Ich beschwöre eins meiner Lieblingsfotos nach dem anderen herauf.
Die Aktfotos von Edward Weston.
Avedons Porträt von Truman Capote, auf dem er seinen Bauchnabel zeigt.
Und, natürlich, Annie Leibowitz’ unglaubliches Bild von Yoko Ono, die sich an den nackten John Lennon kuschelt.
Es geht bei mir immer um Menschen aus Fleisch und Blut. Ich weiß Galen Rowell und Ansel Adams zu schätzen, aber Berge und Landschaften können mich nicht so packen wie eine lebende, atmende Person.
Die mentale Diaschau klappt - langsam beruhige ich mich. Das heißt, bis ich aus dem Fahrstuhl trete und meine Nachbarin, Mrs Rosencrantz, sehe. Sie steht in einem orangeblauen Hawaiikittel vor ihrem Briefkasten. Als sie den Kopf hebt, wirft sie mir einen dieser unglaublich bösen, höhnischen Blicke zu. Und? Was hat sie jetzt wieder für ein Problem?
Mit Sicherheit bin ich die Ursache.
Ich versuche, sie nicht zu beachten, als ich auf die Tür zugehe, doch ich spüre, wie sich ihre Augen hinter ihrem billigen, dicken Brillengestell in mich hineinbohren. Unnachgiebig, ohne ihn zu mildern. Und so sehr es mich auch hinaus auf die Straße drängt, kann ich mir einen kleinen Umweg nicht verkneifen. Direkt bis vor ihr Gesicht.
Ich reiße meine Kamera aus der Tasche und drücke ihr das Objektiv fast auf ihre spitze Nase.
»Machen wir doch ein Foto, du alte Vettel. Das hält länger!«, rufe ich.
Klick.
Ich wirble herum, ohne ihren Wutausbruch abzuwarten. Alle anderen in der Eingangshalle blicken mich an, aber mehr bekommen sie nicht von mir zu hören. Ich rausche, den Blick stur geradeaus gerichtet, zum Ausgang.
Was ist nur in dich gefahren, Kristin?
Das ist so untypisch. Solche Dinge tue ich sonst nicht - Leute anschreien, ihnen ins Gesicht springen.
Beängstigend.
Aber noch beängstigender ist, dass es mir gefällt.
Angesichts all der Vorkommnisse der letzten Zeit reagiere ich immer impulsiver - im Denken, Reden und Handeln tue ich das normalerweise nicht. Diese kleinen, roten Lämpchen, diejenigen, die in meinem Hirn auflackern, sind auf mysteriöse Weise ausgefallen.
»Hey, passen Sie auf, wohin Sie gehen, Fräulein!«
Ich brauche eine Sekunde, bis ich merke, dass ich beinahe in einen schmuddelig aussehenden Typ hineingerannt wäre, der sich an der Ecke mit seiner Gitarre ein bisschen Geld verdient.
»’tschuldigung«, murmle ich.
Ich habe mich bereits mit gesenktem Kopf und unachtsam gegenüber allem und jedem um mich herum einen Straßenblock von meinem Haus entfernt. Der Kerl hat Recht - ich muss aufpassen, wohin ich gehe. Ja, und wohin gehe ich? Ich bleibe kurz stehen und denke darüber nach, was heute hätte sein können. Mein Tag mit Michael, das Picknick, von dem er geredet hat. Wir wollten uns unterhalten, einander nah sein, etwas Wein trinken … und mir würde es viel besser gehen.
Stattdessen ist mein Tag zerstört, noch bevor er richtig angefangen hat. Der Traum, der Brandgeruch, der Ausschlag …
Urplötzlich kommt mir eine Idee.
Eine, nun ja, etwas verrückte Idee.
Sehr untypisch für mich. Zumindest für mich, wie ich vor ein paar Tagen war.
»Hey, Fräulein, macht’s Ihnen was aus, weiterzugehen? Sie schädigen mein Geschäft.«
Ich drehe mich zu dem Typ mit dem strähnigen Haar, der auf seiner Gitarre zupft, um. Jeder zweite Ton klingt schief. Sein ramponierter Gitarrenkasten liegt offen zu seinen Füßen, und auf dem zerrissenen schwarzen Samt schimmern ein paar spärliche Münzen. Und ich meine spärlich. Ein oder zwei Vierteldollarmünzen sind für diesen Troubadour schon das Höchste.
»Ich meine es ernst, Fräulein«, bellt er. »Hauen Sie ab, los!«
Bevor ich weiß, was ich tue, springe ich auch ihm ins Gesicht. »Hör mal, du erbärmlicher Kurt-Cobain-Verschnitt, hast du schon mal darüber nachgedacht, dass es deine Klimperei ist, mit der du dein Geschäft schädigst?«
Ihm bleiben Spucke und Lieder weg, und in null Komma nichts bin ich die Straße schon einen halben Block weitergehechtet.
Endlich habe ich ein Ziel.
37
Als ich Boston verließ und die Red Sox gegen die Yankees eintauschte, nahm ich drei Dinge mit nach Manhattan: einen Koffer, einen Freund …
… und Bob.
Es gibt sicher ein
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