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Todesreigen

Titel: Todesreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Mitte war die Oberfläche ein wenig aufgewühlt, aber zum Ufer hin glättete sie sich zu einer leinenartigen Textur. Die Trostlosigkeit machte ihn nicht direkt traurig, doch sie half ihm erst recht nicht über sein Unbehagen hinweg. Er schloss die Augen und atmete die saubere Luft ein. Anstatt ihn zu beruhigen, jagte sie ein Kribbeln durch seinen Körper – eine Art Angst, roh und elektrisierend. Schnell drehte er sich um, überzeugt, dass jemand ihn beobachtete. Zwar konnte er keine Menschenseele entdecken, doch er war keineswegs überzeugt, dass er sich hier allein aufhielt; der Wald war einfach zu dicht. Es gab tausend Möglichkeiten, ihn zu beobachten.
    Entspann dich
, befahl er sich selbst, wobei er die Wörter in die Länge zog. Die Stadt liegt hinter dir, die Probleme im Job, die Anspannung, der Stress. Vergiss das alles. Du bist hier, um zur Ruhe zu kommen.
    Eine Stunde lang versuchte er, sich aufs Angeln zu konzentrieren, wobei er erst Blinker, dann Jigs benutzte. Schließlich entschied er sich für einen Oberflächenköder. Ein paar Mal sprangen die Fische, ohne die Köder aufzunehmen. Einmal hatte er gerade den froschgrünen Köder durch die Luft schnellen lassen, als er hinter sich das Knacken eines Astes hörte. Ein schmerzhaftes Frösteln schoss seinen Rücken hinunter. Er wandte sich schnell um und tastete den Waldrand mit den Blicken ab. Niemand war dort.
    Auf der Suche nach einem anderen Köder schaute Alex auf den gründlich sortierten und gereinigten Werkzeugkasten hinunter, den er für seine Ausrüstung benutzte. Er sah sein blitzsauberes, geschärftes Anglermesser. Eine flüchtige, Jahre zurückreichende Erinnerung an seinen Vater schoss ihm durch den Kopf, wie er seinen Gürtel löste, das Ende um seine Faust wickelte und dem jungen Alex befahl, seine Jeans herunterzuziehen und sich vorzubeugen. »Du hast den Schraubenzieher draußen liegen lassen, Junge. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du deine Werkzeuge mit Respekt behandeln musst? Öle alles ein, was rosten kann, trockne alles, was sich verziehen kann, und halte deine Messer scharf wie Rasierklingen. Also, du kriegst fünf, weil du den Schraubenzieher ruiniert hast. Los geht’s. Eins…«
    Er hatte nie herausgefunden, von welchem Schraubenzieher der Mann gesprochen hatte. Wahrscheinlich gab es auch keinen. Doch nach dieser Szene hatte Alex, der Junge, und später Alex, der Erwachsene, geölt, getrocknet und geschärft. Trotzdem wusste er, dass die Methode seines Vaters völlig falsch war. Er konnte Jessie-Bessie beibringen, wie man ein richtiges Leben führte, ohne sich zu Zornesausbrüchen, Schlägen und Brüllerei hinreißen zu lassen – all den traumatischen Erlebnissen, deren Nachwirkungen man nie wieder loswird.
    Er hatte sich gerade ein wenig beruhigt, doch die Gedanken an seinen Vater brachten seine Anspannung wieder zurück. Er erinnerte sich an die Unterhaltung mit seiner Tochter –über Schlägereien und Schulhoftyrannen. Und das bereitete ihm neues Unbehagen. Alex war klar, dass er alles tief in sich verschloss. Er fragte sich, ob er seinem Vater überhaupt jemals entgegengetreten war, von Angesicht zu Angesicht. Vielleicht würde er dann heute den Stress und die Anspannung weniger schmerzhaft empfinden. Alex neigte zum einfacheren Weg, dem Vermeiden von Konfrontationen.
    Faustkämpfe… ein neues Selbsthilfe-Konzept. Er musste lachen.
    Halbherzig warf er die Angel noch einige Male aus. Dann hakte er den Köder an der Spule fest und ging am Ufer entlang Richtung Osten. Vorsichtig trat er von einem Stein auf den anderen und sah die ganze Zeit hinab auf die schlüpfrigen Oberflächen. Einmal wäre er beinahe in das kalte, schwarze Wasser gefallen, weil er die Reflexionen der schnell ziehenden und immer grauer werdenden Wolkenbänder auf dem Wasser zu seinen Füßen beobachtet hatte.
    Da er völlig auf seine Schritte konzentriert war, bemerkte er den Mann erst, als er nur noch drei oder vier Meter vor ihm am Ufer kauerte. Alex blieb stehen. Der Fahrer des Pickup, vermutete er.
    Der Mann war Mitte vierzig und trug Jeans und ein Arbeitshemd. Er war dünn und drahtig und hatte das Gesicht eines Fuchses, ein Eindruck, der durch den Zwei- oder Drei-Tage-Bart noch verstärkt wurde. In der rechten Hand hatte er ein galvanisiertes Rohr. Seine Linke umfasste den Schwanz eines Zanders und hielt den zappelnden, schimmernden Fisch gegen einen großen Stein. Der Mann warf Alex einen Blick zu und registrierte dessen teure

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