Todesschrei
schneller ausschaltet oder Verfolgungsjagden gewinnt.«
Der Junge, der eben gesprochen hatte, grinste gut gelaunt. »Na ja, von dem hier lernen Sie garantiert nichts. Absoluter Durchschnitt.«
»Das ist Ray«, erklärte Dom. »Ein echter Spielfreak. Wie Jesse.«
»Also - was ist denn dann so toll an dem Spiel?«, wollte Vito wissen.
Ray zuckte die Achseln. »Eigentlich werden hier bloß Sequenzen von den letzten fünf Spielen des Herstellers aufgewärmt - Spielphysik, Environment, AI ... »Artifical Intelligence«, murmelte Dom. »Danke, ich weiß«, murmelte Vito zurück. »Aber ich muss noch einmal fragen - was ist denn nun so toll daran? Die Grafik ist platt, die AI öde, und Jesse hat gerade ein Dutzend Feinde umgenietet, ohne sich groß anstrengen zu müssen. Also? Worin besteht die Herausforderung?«
»Im Spiel gibt's keine«, sagte Jesse, der offenbar nicht beleidigt war. »Das Tolle daran sind die Cutscenes.« Er lachte leise. »Verdammte Scheiße, die sind echt krass.« Dom sah ihn scharf an. »Mann, Jesse. Meine kleinen Brüder sind hier.«
»Na und? Glaubst du, dein alter Herr sagt so etwas nie?« Dom biss die Zähne zusammen. »Jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart. Komm jetzt, lass uns wieder arbeiten.« »Wartet bitte noch«, sagte Vito. Er war neugierig, was die Kids heutzutage spielten, und wollte mehr über Dominies Klassenkameraden erfahren. Aber sobald seine Neugier befriedigt war, würde er diesen Jesse vor die Tür setzen. Auf dem Bildschirm lud der amerikanische Soldat gerade nach und murmelte: »Eine Falle. Diese verdammte Hure hat mich verraten. Das wird sie bereuen.« Schnitt, und der Soldat stand an der Tür eines kleinen französischen Häuschens.
»Und was soll das jetzt?«, fragte Vito Ray. »Das ist ... die Cutscene.« Er sagte es, als handelte es sich um etwas Heiliges. Vito runzelte die Stirn, und Ray wirkte enttäuscht. »Eine Cutscene ist eine Filmsequenz, die die Story weiterbringt. Man redet mit Leuten, erfährt wichtige Sachen oder kriegt etwas, was man im Spiel braucht, und -«
»Danke, ich weiß, was eine Cutscene ist«, unterbrach Vito ihn. »In den meisten Fällen sind sie todlangweilig und verzögern bloß das Spiel. Was ist an dieser hier so toll?« Ray grinste. »Warten Sie ab. Das ist Clothildes Haus. Sie hat behauptet, im französischen Widerstand zu sein, hat aber den Soldaten verraten. Deswegen ist er im Bunker in den Hinterhalt geraten. Jetzt will er sich rächen. Jesse hat recht. Das ist echt krass.«
Im Spiel öffnete sich die Tür im Inneren des Hauses, und der Film lief ab. Die Grafik veränderte sich abrupt. Plötzlich waren die körnigen Gestalten und die abgehackten Bewegungen verschwunden. Es wirkte unglaublich real, wie der Soldat das Haus betrat und es zu durchsuchen begann. Endlich fand er Clothilde in einem Schrank. Er zerrte sie heraus und stieß sie gegen eine Wand. »Du Miststück«, knurrte er. »Du hast ihnen gesagt, wo sie mich finden. Was haben sie dir dafür gegeben? Schokolade? Seidenstrümpfe?«
Clothildes Blick verhöhnte ihn, obwohl ihre Augen vor Angst geweitet waren. »Achten Sie auf die Augen«, flüsterte Ray. »Los, rede schon.« Der Soldat schüttelte die Frau heftig. »Mein Leben«, spuckte Clothilde aus. »Sie haben mir gesagt, ich müsste nicht sterben, wenn ich es ihnen sagte. Also habe ich es ihnen gesagt.«
»Fünf von meinen Kumpels sind tot. Deinetwegen!« Der Amerikaner legte der Frau die Hände um den Hals, und Clothilde riss die Augen noch weiter auf. »Du hättest dich von den deutschen Schweinen umbringen lassen sollen. Denn jetzt mache ich es.«
»Nein. Bitte nicht!« Sie wehrte sich, und die Kamera fuhr näher heran, so dass nur noch Hände und Gesicht zu sehen war. Das Entsetzen in ihren Augen ... »Unglaublich, oder?«, flüsterte Ray. »Der Künstler ist ein echtes Genie. Es ist so echt wie ein Film. Kaum zu glauben, dass jemand das nachentwickelt haben soll.« Aber jemand hatte es getan. Verstört presste Vito die Kiefer zusammen. Jemand hatte das entworfen, gezeichnet. Und Kinder sahen es sich an. Er zupfte an Doms Ärmel. »Geh mal und sieh nach deinen Brüdern.«
Dom wirkte vor allem erleichtert. »Okay.« Im Spiel schluchzte und flehte Clothilde inzwischen um ihr Leben. »Und? Bist du bereit zu sterben?«, höhnte der Soldat nun, und Clothilde schrie. Laut und lang. Verzweifelt. Viel zu echt. Vito verzog das Gesicht und warf einen Blick auf die Jungen, die fasziniert und gleichzeitig abgestoßen zusahen.
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