Todsünde
nicht gekommen sei. Wie erklären Sie solche übereinstimmenden Berichte von Visionen?«
»Halluzinationen, ausgelöst durch Sauerstoffmangel im Gehirn.«
»Oder ein Beweis für die Existenz des Göttlichen.«
»Ich wäre glücklich, wenn ich einen solchen Beweis finden könnte. Es wäre ein Trost, zu wissen, dass es jenseits unserer physischen Existenz noch etwas gibt. Aber ich kann es nicht einfach so glauben. Das ist es doch, worauf Sie hinauswollen, oder? Dass Camilles Schwangerschaft eine Art Wunder war – eine Manifestation des Göttlichen.«
»Sie sagen, Sie glauben nicht an Wunder, aber Sie können auch nicht erklären, warum Ihre Patientin den Bauchspeicheldrüsenkrebs überlebt hat.«
»Es gibt nicht immer eine einfache Erklärung.«
»Weil die Medizin das Phänomen des Todes nicht gänzlich begreifen kann. Ist es nicht so?«
»Aber das Phänomen der Empfängnis begreifen wir. Wir wissen, dass dazu eine Eizelle und ein Spermium erforderlich sind. Das ist schlichte Biologie, Ehrwürdige Mutter. Ich glaube nicht an unbefleckte Empfängnis. Was ich glaube, ist, dass Camille Geschlechtsverkehr hatte. Er mag erzwungen oder einvernehmlich gewesen sein. Aber ihr Kind wurde auf natürliche Weise empfangen. Und die Identität des Vaters könnte für die Aufklärung des Mordes von Belang sein.«
»Und wenn der Vater nie gefunden wird?«
»Wir werden die DNA des Kindes haben. Dann brauchen wir nur noch den Namen des Vaters.«
»Sie haben ein solches Vertrauen in Ihre Wissenschaft, Dr. Isles. Sie ist Ihre Antwort auf alle Fragen.«
Maura erhob sich. »An diese Antworten kann ich wenigstens glauben.«
Pater Brophy geleitete Maura hinaus. Die ausgetretenen Dielen knarrten unter ihren Schritten, als sie den düsteren Korridor entlang zum Ausgang gingen.
»Warum sprechen wir das Thema nicht gleich an, Dr. Isles?«, sagte er.
»Welches Thema denn?«
Er blieb stehen und sah sie an. »Die Frage, ob das Kind von mir ist.« Er wich ihrem Blick nicht aus; im Gegenteil, sie war es, die sich am liebsten abgewandt hätte, so eindringlich fixierten sie seine blauen Augen.
»Das ist es doch, was Sie sich fragen, nicht wahr?«, sagte er.
»Sie verstehen sicherlich, wieso.«
»Ja. Wie Sie vorhin sagten, verlangen die unumstößlichen Gesetze der Biologie ein Spermium und eine Eizelle.«
»Sie sind der einzige Mann, der regelmäßig Zugang zu diesem Kloster hat. Sie lesen die Messe und nehmen den Schwestern die Beichte ab.«
»Ja.«
»Sie kennen ihre intimsten Geheimnisse.«
»Nur die, die sie mir anvertrauen.«
»Sie sind eine Autoritätsfigur.«
»Das sind Priester nun einmal in den Augen mancher Menschen.«
»In den Augen einer jungen Novizin ganz gewiss.«
»Und dadurch bin ich automatisch verdächtig?«
»Sie wären nicht der erste Priester, der sein Gelübde bricht.«
Er seufzte und senkte zum ersten Mal die Augen. Nicht, um ihrem Blick auszuweichen, sondern nur zu einem traurigen Nicken. »Wir haben es nicht leicht heutzutage. Die Blicke, die die Leute uns nachwerfen; die Witze, die sie hinter unserem Rücken erzählen. Wenn ich die Messe lese, blicke ich in die Gesichter meiner Gemeinde, und ich weiß, was in den Köpfen vorgeht. Sie fragen sich, ob ich kleine Jungs unsittlich berühre oder junge Mädchen begehre. Sie stellen sich die gleichen Fragen wie Sie. Und Sie vermuten gleich das Schlimmste.«
»Ist das Kind von Ihnen, Pater Brophy?«
Die blauen Augen waren wieder auf sie gerichtet. Sein Blick war fest und ruhig. »Nein. Ich habe mein Gelübde nie gebrochen.«
»Sie verstehen doch, dass wir uns nicht allein auf Ihr Wort verlassen können?«
»Ja, ich könnte schließlich lügen, nicht wahr?« Obwohl er die Stimme nicht erhoben hatte, nahm sie den zornigen Unterton wahr. Er trat näher, und sie verharrte reglos, widerstand dem Impuls zurückzuweichen. »Ich könnte eine Sünde auf die andere häufen, mich immer mehr verrennen. Und wo endet diese Spirale, diese Kette von Sünden, Ihrer Meinung nach? Lüge.
Sexueller Missbrauch einer Nonne. Mord?«
»Die Polizei muss alle denkbaren Motive in Erwägung ziehen. Auch die Ihren.«
»Sie werden eine DNA-Probe von mir haben wollen, nehme ich an.«
»Damit könnte belegt werden, dass Sie nicht der Vater des Babys sind.«
»Oder es könnte mich zum Hauptverdächtigen für den Mord machen.«
»Beides ist möglich – das hängt vom Resultat ab.«
»Was glauben Sie, was der Test ergeben wird?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber Sie müssen doch
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