Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
Höhenangst. Er fing an, sich in Autos zunehmend unwohl zu fühlen. Thorne war bekannt, dass manche Leute umso stärker unter Flugangst litten, je öfter sie flogen. Er fragte sich, ob ihm das auch blühte.
Vielleicht war diese Empfänglichkeit für die Angst in ihren verschiedensten Formen auch nur eine Frage des Alters. Sein Vater hatte sich vor den seltsamsten Dingen gefürchtet. Thorne begann sich zu fragen, ob er wie sein alter Herr wurde. Dass es irgendwann einmal so kommen würde, war ihm klar gewesen. Es ging allen so. Doch nach dem Tod seines Vaters hatte sich dieser Prozess explosionsartig beschleunigt. Als wäre er Teil einer Art verdrehter kosmischer Gleichung. Es kam ihm vor, als füllte er die Leere, die durch den Tod seines Vaters entstanden war.
Und hinzu kam noch diese seltsame Geschichte, wenn man ein Elternteil verlor. Wenn man beide Eltern verloren hatte und Waise war. Der Schalter, der umgelegt wurde …
Zum ersten Mal in seinem Leben begann Thorne den Schmerz zu verstehen, kinderlos zu sein. Er fühlte ihn nicht, noch nicht, aber er konnte ihn nachvollziehen. Er verstand jetzt, warum Menschen, die sich danach sehnten, Kinder zu haben, davon sprachen, das sei wie ein Loch, das danach rufe, gefüllt zu werden. Ihm kam es langsam so vor, als wachse dieses Loch auch in ihm, noch verborgen zwar, aber nur darauf wartend, dass die Hülle abfiel, die es verdeckte. Kinder in die Welt zu setzen, nur um den Schmerz zu stillen, den es verursacht, keine zu haben – er fragte sich, ob dies ausreichte. War das der Grund, warum die meisten Menschen Eltern wurden? Jedenfalls konnte er sich nun annähernd vorstellen, wie Caroline darunter litt, gleichzeitig Mutter und kinderlos zu sein.
Der Verlust der Eltern und der Verlust der Kinder …
Thornes Gedanken wanderten zu dem Mann hinter der Videokamera. Dem Mann, der den Tod von vier Männern gefilmt hatte. Es waren vier Söhne. Gut möglich, dass es auch vier Väter waren.
Wie sollten sie ihn je finden, wenn sie nicht Ryan Eales aufspürten? Am besten fingen sie natürlich mit ihrer Suche bei der Army an. Dort konnten sie herausfinden, was das für ein Mensch war. Wie war dieser Mann beschaffen, der neben der Panzercrew auf dem schwarzen Sand stand, überflutet von Schatten und Ölregen? Natürlich war es jetzt ausgesprochen schwierig, sich an die Army zu wenden … nachdem relevante Fakten zurückgehalten worden waren. Im Pub hatte Brigstocke Thorne gestanden, dass er inzwischen bedauerte, die Existenz des Videos geheim gehalten zu haben.
Thorne hatte versucht, so mitfühlend wie möglich zu reagieren. »Hinterher sind wir alle Sherlock Holmes, mein Freund. Seien Sie deshalb nicht zu hart zu sich selbst.«
»Wenn wir nicht weiterkommen«, sagte Brigstocke, »sind noch einige vor mir in der Schlange …«
Die Musik von der Wohnung über dem Laden gegenüber war verstummt. Sie wurde ersetzt durch das Gegröle dreier Fußballfans, die vom Shakespeare’s Head herunter in Thornes Richtung liefen. Er zog sich ein Stück weiter in seinen Eingang zurück und blickte ihnen nach, als sie an ihm vorbeiliefen.
Sie hatten ihn nicht entdeckt. Oder er war ihnen egal …
In diesem kurzen, klaren Augenblick, bevor er einschlief, fiel Thorne jemand ein, den er vielleicht anrufen könnte. Jemand, der ihm wenigstens einen kleinen Einblick geben könnte, was sich an diesem 26. Februar vor beinahe fünfzehn Jahren zugetragen hatte. Natürlich musste er dabei vorsichtig vorgehen, aber bislang hatte er noch von keiner besseren Idee gehört.
Er döste weg mit dem Gedanken, dass er schon schlechtere Einfälle gehabt hatte und dass die Visitenkarte noch irgendwo in seiner Aktentasche im Lift stecken musste. Und mit der Hoffnung, es bis morgen nicht vergessen zu haben.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
DS Sam Karim, dem diese Dinge oblagen, hatte das Layout des weißen Brettes zum x-ten Mal neu zu gestalten, nun schien er seine Arbeit beendet zu haben.
In der Mitte befanden sich noch immer die vom Army Personnel Centre erst vor kurzem geschickten Fotos: Chris Jago, Ian Hadingham, Ryan Eales und Alec Bonser. Fotos von vier jungen Männern aus der Zeit, als sie zu den 12th King’s Hussars abkommandiert worden waren.
Holland sah zu, wie der Fall, so wie er sich an diesem Tag darbot, Gestalt annahm. Es fiel nicht leicht, dieses Quartett frischer Gesichter – geschniegelt und gestriegelt, hie und da die Andeutung eines Lächelns – mit denen hinter regennassen Schutzbrillen und
Weitere Kostenlose Bücher