Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
Sie hasste Zigaretten ohnehin, glaubte aber auch, dass eine Aussage bessere Ergebnisse brachte, wenn der Betreffende angespannt war.
Die Andeutung eines Lächelns huschte über Jagos Gesicht. »Was ist eigentlich aus dem guten Bullen geworden, der das Päckchen Zigaretten rüber schiebt, wenn der böse das Zimmer verlässt?«
»Wir gehören beide zu den bösen Bullen«, antwortete Kitson.
»Miss Jago.« Holland trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Er wollte eine Antwort. »Sie haben die Zeit, die Ihr Bruder bei der Armee verbrachte, in dem Gespräch mit Dr. Hendricks nie erwähnt. Ist das so weit korrekt?«
Sie nickte.
»Fürs Protokoll, bitte …«
»Ja, das ist korrekt. Ich habe es nicht erwähnt, aber ich verstehe auch nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.«
»Ach, wirklich nicht?«, fragte Kitson. »Wie viele Exsoldaten, glauben Sie, landen auf der Platte, Susan? Im Gegensatz zu Exfußballern? Oder Exbankern?«
Jago zuckte die Achseln.
»Gehen wir ein Stück weiter«, sagte Holland. »Ein paar Tage nach dieser London-Fahrt wurden Sie von Detective Constable Stone angerufen, der Ihnen mitteilte, dass Ihr Bruder nach unseren Informationen tot sei.«
Plötzlich rutschte Jago auf ihrem Stuhl hin und her, als störe sie etwas auf ihrem Sitz. »Genau, als wäre das eine gute Nachricht. Ein Anruf von einem schleimigen Bullen am unteren Ende der Hackordnung, der offensichtlich die Arschkarte gezogen hatte und mir erzählte, dass Chris tot ist. Und jetzt sitzen Sie hier und fragen mich als Nächstes, warum ich wieder nichts davon gesagt habe, dass er in der Armee war, stimmt’s? Nun, es tut mir Leid, dass ich in dem Augenblick gerade andere Dinge im Kopf hatte. Zum Beispiel, wie ich das meiner Mutter beibringe. Oder wie ich herausfinde, wo mein Bruder begraben wurde …«
Kitson war anzumerken, dass auch sie nicht länger zum Narren gehalten werden wollte. »Hören wir auf, unsere Zeit zu verschwenden, und nennen wir das Kind beim Namen: Sie haben uns angelogen, uns Informationen vorenthalten, die in einer Mordermittlung von entscheidender Bedeutung sein könnten.«
Jago schlug mit der Hand auf den Oberschenkel und rief: »Das ist nicht dasselbe. Ganz und gar nicht dasselbe. Sagen Sie mir doch, wann ich gelogen habe …«
»Zum Beispiel, als es um die Tätowierungen ging?«
Aus der Haut um ihren Mund wich unvermittelt die Anspannung, als hätte der Pferdeschwanz sie die ganze Zeit über straff gehalten und sei plötzlich entfernt worden.
»Ich habe nichts gemacht.« Sie hielt Kitsons Blick stand, aber ihre Stimme klang lange nicht mehr so schneidend.
»Sie wurden mehrmals – von mir, von den Kollegen Holland und Stone im Verlauf des Telefongesprächs am 17. September – gefragt, ob Sie wüssten, was diese Tätowierungen bedeuten. Bei sämtlichen Gelegenheiten erklärten Sie, es nicht zu wissen.«
»Bei sämtlichen Gelegenheiten war ich wohl ziemlich neben der Kappe, richtig?«
»Sie haben gelogen.«
»Nein.«
»Sie wussten ganz genau, dass die Tätowierungen einen militärischen Hintergrund haben.«
»Ich hab nie gelogen. Ich hab Ihnen bereits erklärt, dass ich das erste Mal vollkommen fertig war. Verdammt, ich hatte gerade einen Toten gesehen. Einen armen Teufel, dem sie das Gesicht zu Brei geschlagen haben. Als man mich später am Telefon nach den Tattoos fragte, war ich total fertig, ja. Ich hatte gerade erfahren, dass sie auch Chris umgebracht haben. Wie sollte ich da klar denken können?« Sie schüttelte den Kopf, hörte nicht auf. Doch Holland und Kitson bemerkten sofort, dass ihr klar war, was sie soeben gesagt hatte.
»Eine merkwürdige Weise, das auszudrücken, finden Sie nicht, Susan? Ihr Bruder kam bei einem Autounfall ums Leben, bei dem der Verursacher Fahrerflucht beging. Das ist alles, was Sie darüber wissen. Ihnen wurde gesagt, es handle sich um einen Unfall. Sie sagten gerade: ›dass sie auch Chris umgebracht haben‹. So, wie der erste Tote umgebracht wurde …?«
Draußen auf der Straße heulte ein Motor auf, und irgendwo entlang des Gangs läutete ein Telefon, doch niemand ging dran.
Kitson beugte sich vor. »Warum haben Sie uns angelogen?«
Es hatte nicht lange gedauert. Susan Jago war vorbereitet gewesen. Sie hatte sich darauf eingestellt, die Sache durchzustehen, aber ihre zur Schau gestellte Kaltschnäuzigkeit konnte nicht über die inneren Qualen hinwegtäuschen, die sie schier zerrissen. Sobald sie anfing zu reden, floss es nur so heraus. Wie Eiter,
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