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Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)

Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)

Titel: Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Flipo
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» Es ist unangenehm, Commissaire, unter diesen Umständen die Arbeit einer Kollegin weiterzuführen, aber ich dachte, das gebietet uns der Ehrenkodex unseres Berufsstandes. Jemand von uns muss die Fackel weitertragen.«
    » Ich sehe nicht so recht, was uns Ihre Fackel nützen soll: Dem Brief nach, den Monsieur Saint-Croÿ erwähnte, ist das Sonett sicher von Baudelaire, geschrieben um 1842 herum, vielleicht auch etwas früher.«
    » Erlauben Sie, Commissaire, aber diese beiden hängen nicht unbedingt zusammen. Es kann zu dieser Zeit ein Sonett von Baudelaire gegeben haben, das von einem spaltbreit geöffneten Tempel spricht, aber nichts sagt uns, dass es sich dabei genau um dieses handelt: Ihres ist vielleicht eine andere Version, geschrieben nach 1842. Oder einfach eine Fälschung oder ein Pastiche des ersten aus irgendeiner Epoche. Die Expertise ist von größter Wichtigkeit, nicht nur, um die Echtheit des Sonetts zu bestimmen, sondern auch, um es zu datieren, falls es echt sein sollte: Hat Baudelaire es mit zwanzig geschrieben oder mit fünfunddreißig? Hierin begründet sich auch das Interesse von Élisabeth Blum an dem lila Heftchen von der Russkaja, das leider spurlos verschwunden ist.«
    Diese Bemerkungen irritierten Viviane. Noch eine Möglichkeit, an die sie nicht gedacht hatte: Und wenn es nun zwei Sonette gab? Dieser Fall überstieg sie eindeutig.
    Cucheron beruhigte sie mit dem passenden Lächeln eines Helden. » Vertrauen Sie mir, Commissaire, diese Expertise wird zu einem Schluss kommen, ganz gleich, welche Risiken ich dafür in Kauf nehmen muss.«
    » Na dann riskieren Sie mal. Aber Mittwoch will ich die Ergebnisse haben.«
    Viviane ging zurück in ihr Büro und geradewegs zum Fenster. Luft, schnell! Die versmogte Luft der Avenue du Maine schien ihr köstlich erfrischend. Sie freute sich beinahe über eine eher beunruhigende Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter: Der leitende Kriminaldirektor wünschte sie zu sehen.
    Besorgt kam sie am Quai des Orfèvres an. Der Allmächtige zitierte die ihm unterstellten Kripobeamten selten zu sich. Der Kontakt mit ihm war ungezwungen, fand aber nur am Telefon statt. Man führte sie in ein Büro, zu groß, zu leer. Es lagen nur drei Ordner auf seinem Tisch, ein Zeichen seiner Macht. Doch nicht nur das: Alle Kriminalkommissare des Hauptkommissariats behaupteten, dass es sich dabei lediglich um Attrappen handelte.
    Er lächelte mitfühlend, und seine Stimme wurde ganz sanft, als ob er ihr verkünden müsste, dass sie einen erhöhten Cholesterinwert hatte. » Ich habe eine Nachricht, die Ihnen nicht gefallen wird, meine kleine Viviane.«
    Sie war auf der Hut, bereit, den Schlag einzustecken.
    » Wir mussten José Tolosa wieder freilassen. Es hat einen Formfehler gegeben. Das ist sehr ärgerlich.«
    » Einen Formfehler? Von uns?«
    » Nicht von Ihnen, Viviane, sondern von Seiten der Justiz. Der Ermittlungsrichter hat die Frist von zwanzig Stunden zwischen der Erhebung der Anklage und der Vorführung des Verdächtigen vor den Haftrichter überschritten. So ist das Gesetz…«
    Ihr stockte der Atem, sie hatte ein Ziehen in der ganzen Brust. » Ja, ich weiß das, Herr Direktor. Das Perben- II -Gesetz, Paragraf803-3 des Strafgesetzbuchs. Ich würde gerne wissen, wer der dumme Sack von Ermittlungsrichter ist, der das nicht weiß.«
    Der Allmächtige stammelte herum, er schien furchtbar verlegen: » Ich weiß, dass ich Ihnen damit wehtue, Viviane. Es ist Richter Ludovic Bartan. Ich möchte Ihnen sagen…« Er wusste nicht, was er einer Frau sagen sollte, die gleich in Tränen ausbrechen würde. Er wusste zu gut, was Ludovic für Viviane war– oder gewesen war.
    Sie brach in Tränen aus. Dieser Dreckskerl von Ludovic gab sich nicht damit zufrieden, ihr Gefühlsleben zerstört zu haben, jetzt setzte er auch noch ihr Berufsleben aufs Spiel.
    » Ich habe Verständnis für Ihre Bestürzung, aber vielleicht ist das in gewisser Weise Glück im Unglück. Dieser Fall ist schiefgegangen, die Medien haben das sehr schlecht aufgenommen, Sie standen in der Schusslinie. Verstehen Sie?«
    » Jetzt muss ich das auch noch verstehen?«
    Der Allmächtige schüttelte den Kopf, wie um ein paar Schuppen abzuschütteln. Er musste ihr noch einen weiteren Messerstich zufügen. » Ich muss Ihnen noch sagen, dass die Staatsanwaltschaft auch den zuständigen Ermittlungsrichter im Fall des Sonetts ernannt hat: Es wird…« Er seufzte verlegen. » Es wird ebenfalls Ludovic Bartan sein. Er hat nicht darum

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