Tote Finnen tanzen keinen Tango: Kriminalroman (German Edition)
wusste sowieso, dass hier kein Verwandtenbesuch anstand.
Auf der Einwohnertafel neben der Haustür stand Make Honka. Andere Namen gab es nicht. Das mit Tags, schamlosen Filzstiftschmierereien und Klappmesserkratzern verunzierte Gelb der Wände war das gleiche wie in der Mensa von Kuhalas Schule in Havuvaara, aber damals waren Schmierereien noch nicht in Mode gewesen.
Man hörte kaum Wohnblockgeräusche. Als Kuhala auf der Höhe des ersten Lüftungsbalkons angekommen war, glaubte er sogar, überhaupt nichts mehr zu hören. Im Treppenhaus hing nicht einmal der Geruch gewöhnlichen Lebens in der Luft: angebranntes Dosenfleisch und billiges Parfüm. Im ersten Stock stand eine Wohnungstür einen Spaltbreit offen. Er spähte hinein. Der Flur war leer, die gesamte Wohnung war leer.
Honka alias der Gefräßige wohnt im Halbdunkel am Ende des Gangs im zweiten Stock. Was zum Teufel hatte Antikainen mit einem Mann, der hier wohnt, zu schaffen?
Kuhala läutete. Es machte plim-plom wie in einer ermüdenden Szene in einer gut gemeinten Familienserie, aber niemand öffnete die Tür. Er klingelte noch ein paarmal, dann ging er auf den Lüftungsbalkon hinunter, um von dort aus nachzusehen, ob mit Jeri alles in Ordnung war. Der Hund lag im Schatten und beantwortete Kuhalas Pfiff mit einem Schwanzwedeln.
Die Rocker hatten ihn zu einem leeren Haus geführt, und falls das eine Beleidigung sein sollte, war er bereit, sie wie ein Mann hinzunehmen. Hinter der Tür des Gefräßigen rührte sich nichts, auch das Schellen an der Nachbartür brachte ein negatives Resultat.
Wie ein Mann, der viel durchgemacht hat, stand
Kuhala in dem leeren Haus und lauschte seinem eigenen Atem.
Das Verschwinden von Antikainen wog in der Waagschale seiner menschlichen Sorgen nicht sonderlich viel, aber ansonsten gab es mehr als genug Grund zur Sorge. Und nicht nur zur Sorge. Wie wäre es, jetzt richtig Sommerurlaub zu machen und Annukkas warme Berührung auf der Haut zu spüren!
Irgendwo hörte man ein Geräusch. Schwach und erstickt. Kuhala öffnete die Briefklappe von Honka und sah die Beine eines Mannes. Sie waren an den Fußgelenken gefesselt, ihr Besitzer saß auf einem Stuhl. Kuhala holte das Dietrichset heraus und ging in die Hocke. Die Akustik des Treppenhauses intensivierte das Gurren der Ringeltaube auf dem Balkongeländer, die Explosion schleuderte Kuhala von der Tür weg wie einen Handschuh.
ZWEI
18
15. Juni Der unwesentliche Plot des Traums war mit einem sentimentalen Rauschen verkuppelt und löste sich auf, als in Kuhalas Bewusstsein gezackte Lichtflecken aufschimmerten. Er begriff, dass er von Annukka träumte. Sie saßen aneinandergelehnt am Ufer des Alvajärvisees und richteten den Blick auf den Purpurhorizont ihrer gemeinsamen Zukunft.
Kuhala öffnete die Augen. Sein Kopf dröhnte. Er schloss die Augen wieder, einem von beiden entwich eine Schmerzensträne.
»Otto.«
Er spürte eine Hand an seiner Hand und fragte sich, wo er diese Stimme nur schon einmal gehört hatte. Die Berührung war warm und vertraut. Er versuchte den Kopf zu drehen und die Frau anzulächeln, deren Gesichtszüge ganz langsam hinter einem Nebelschleier schärfer wurden. Die zum Fenster hereinscheinende Sonne ließ die roten Haare der Frau golden glühen, weshalb Kuhala für eine Weile glaubte, ein Engel habe sich neben ihm niedergelassen.
Es war aber noch etwas Besseres als ein himmlischer Engel, es war Annukka.
»Annukka.«
»Otto. Mein armer Otto.«
»Wo bin ich?«
»Im Krankenhaus, zur Beobachtung.«
Annukkas Lippen berührten Kuhalas Stirn, ihre Hand wischte vorsichtig die Träne weg. Kuhala hatte im Laufe seines Lebens das eine oder andere über Turbulenzen gelernt und glaubte schon lange nicht mehr daran, dass der regelmäßige Gebrauch von Zahnseide, das Befolgen von Betreten-verboten-Schildern oder auch Spenden für das Katastrophentelefon in philosophischer oder theologischer Hinsicht einen besseren Menschen aus ihm machten.
Die Erfahrung half jedoch nicht, und der Weg, auf dem er in die Wirklichkeit zurückkletterte, war glitschig, nachdem sie so abrupt unter ihm weggerissen worden war.
»Was gibt es an mir zu beobachten?«, lallte er. »Wo ist Jeri?«
»Mach dir keine Sorgen, mein Ottolein. Der Hund ist bei Heikki Raatikainen in Pflege, und es geht ihm gut. Du hast dir eine ganz schöne Suppe eingebrockt. Besser, du ruhst dich jetzt aus.«
»Ja«, lächelte Kuhala, ohne viel von Annukkas Worten zu begreifen.
Er versuchte tapfer zu sein
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