Totenbeschwörung
grässliche Drohung stand im Raum, auch ohne dass er sie aussprach.
Die Fragen, die Nestor stellte, ließen vor seinem inneren Auge eine Szene aus seiner Kindheit erstehen. Sie war ihm wohl bekannt, doch noch nie hatte er sie so lebhaft vor sich gesehen wie jetzt. Als sei sein verletztes Gehirn mit einem Mal genesen, standen bislang nur verschwommen, wie durch einen düsteren Nebel wahrgenommene Bilder nun klar und deutlich vor ihm, und er erinnerte sich! Und da er soeben noch mit dem toten Stammesführer gesprochen hatte, sah auch dieser, was in Nestors Gedanken vorging: Das Grenzgebirge, wie es sich dem Blick von der Sonnseite aus bot. Dünne Nebelschleier umwaberten graue Felszacken, welche die Sonne noch nicht erreicht hatte. Tief im Wald versteckt eine Lichtung, noch feucht vom Tau. Ringsum alles grün, nur an ein paar schattigen Stellen wirkte das Laub etwas dunkler. Der Morgen dämmerte. Die Vögel begannen zu zwitschern, verstummten jedoch mit einem Schlag. Dann plötzlich bebte die Erde, und eine Woge aus pulsierendem, blendend weißem Licht verwandelte das Gebirge in einen schwarzen Schattenriss.
Grelle Blitze zuckten über die Sternseite, und die Wolken stoben nach allen Richtungen zugleich. Ihre Unterseiten leuchteten rot vom Widerschein zahlloser Brände. Nur an einer einzigen Stelle inmitten des Chaos schien der Himmel stillzustehen. Dort wuchs ein gigantischer, widerwärtig anzusehender Pilz in die Höhe, eine Säule aus Feuer und Qualm, die sich nach oben hin zu einer riesigen grauen Wolke ausbreitete. Schwankend stand sie hinter den Bergen, in stetem Fluss, und durch das Tosen der Elemente sah man das rötlichgelbe Lodern in ihrem Innern!
An all dies erinnerte Nestor sich deutlich, nur hatte er es damals als verängstigter Vierjähriger erlebt. Doch nun, als Erwachsener, war ihm eines klar: Was diese Bilder auch immer bedeuten mochten, das Ganze hatte sich tatsächlich ereignet – und es hatte etwas mit ihm zu tun! Er war auf dieser Lichtung im Wald wach geworden und hatte in der Morgendämmerung vor sich hingeweint. Etwas hatte ihn geweckt, und er hatte die Blitze über den Himmel zucken sehen, das Feuer und die immer höher wachsende Wolke. Doch was? Was hatte ihn geweckt? Was es auch gewesen sein mochte, weinend, auf wackligen Beinen, war er zu seiner Mutter gerannt, und sie hatte ihn in den Arm genommen und getröstet. – Seine Mutter? Oh ja, er hatte sie geliebt! Aber wer war sie und was war aus ihr geworden? Doch was machte das schon, schließlich war er nun Wamphyri! – Unvermittelt hatte er ihr eine Frage gestellt, doch sie hatte ihm keine richtige Antwort darauf gegeben: »Mein Vater ... Ist er tot?«
Und obwohl er sich an nichts, was seine Mutter betraf, erinnern konnte, wusste er noch, wie still sie auf einmal geworden war. Sie hatte ihn an ihre Brust gedrückt und dabei hatte ihr Herz ganz heftig gepocht.
Noch immer bekam der alte Stammesführer jede Einzelheit mit, und erneut begann er zu zittern, nicht weniger als Nestors Mutter an jenem bedeutsamen Morgen. Doch er schwieg weiterhin.
Nun?, fragte Nestor ihn abermals. Gedenkst du, ewig zu schweigen? Das will ich doch nicht annehmen! Du weißt, wer ich bin und welche Kunst ich beherrsche! In ebendiesem Moment spürst du meine Hände ganz sacht auf deinem toten Körper ruhen. Wenn ich dich berühre – ganz gleich, was ich mir für dich ausdenke – wirst du es fühlen. Deine Finger sind schon ziemlich brüchig. Sollte es mir einfallen, einen davon abzubrechen, wirst du denselben Schmerz empfinden, als wärst du noch am Leben. Und sollte ich meine Hände in deine wurmzerfressene Brust graben, um dir das Herz ein bisschen zu quetschen, ist es ungefähr so, als würdest du noch einmal sterben ... Nur mit dem kleinen Unterschied, dass du ja bereits tot bist und ich es wieder und wieder tun kann. Du weißt, dass ich nicht lüge! Und nun liegt es bei dir, mir die Wahrheit zu sagen! Hast du die Bilder in meinem Geist gesehen, die Erinnerungen an meine Kindheit? Ja, das hast du, dessen bin ich mir sicher. Ich will wissen, was sie bedeuten, und du wirst es mir erzählen! Und zwar jetzt! Behutsam schlossen Nestors Finger sich um die Hand des alten Stammesführers, und vorsichtig blies er den Staub der Höhle von dem zerfallenden Fleisch und den bleichen Knochen.
Ich ... Ich darf nicht mit dir sprechen!, stammelte der Alte entsetzt.
Es ist dir verboten, dich mit mir zu unterhalten? Nestor streichelte die Hand und zwängte sacht, ganz
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