Totenhauch
hat.«
»Das sollte man meinen.«
Ich ließ den Blick über die Gebeine wandern, und in mir krampfte sich alles zusammen. Man hatte ihn einfach in dieser Kammer gelassen, damit er dort verrottete. »Sie haben gestern Abend gesagt, Sie hätten ein paar interessante Besonderheiten gefunden.«
»Ja. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer das ist, aber ich kann Ihnen sagen, wie er gestorben ist. Er hat eine Stichwunde im Brustbein, und die Einkerbungen in den Rippen deuten auf beidseitige Schnittverletzungen im vorderen Brustkorb und auf zwei weitere im oberen Rücken hin. Insgesamt sieben tiefe Stichwunden. Und es könnte sein, dass er Stiche in die Muskeln oder ins Gewebe bekommen hat, ohne dass der Knochen verletzt wurde. Es war ein brutaler Mord.« Er bemerkte, dass ichdas Gesicht verzog, und sagte: »Kommen Sie, wir machen mit etwas weiter, was nicht ganz so grausig ist.«
Ich nickte.
Er öffnete eine schwarze Plastiktüte und zeigte mir, was darin war.
»Interessanterweise könnten die Überreste der Kleidung, die wir bei der Leiche gefunden haben, unsere beste Chance sein, ihn zu identifizieren.«
»Wirklich? Ich habe nur ein paar Stofffetzen gesehen. Da war fast nichts.«
»Am Körper nicht, aber man hat bei der Leiche noch ein paar andere Sachen gefunden. Schuhe, einen Gürtel, und was noch wichtiger ist: eine Jacke, die zu einer Sportleruniform gehört. Viel haben die Ratten uns nicht übrig gelassen …«
»Moment!« Der Raum fing an, sich zu drehen. Ich stützte mich mit der Hand an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Haben Sie gesagt, eine Jacke, die zu einer Sportleruniform gehört?«
»Braun mit einem in Gold aufgestickten Buchstaben, wahrscheinlich ein V oder ein W.« Besorgt sah er mich an, dann machte er die Tüte wieder zu. »Kommen Sie, nichts wie raus hier. Sie sind weiß wie das Leintuch da.«
Tatsächlich war der Goldbuchstabe ein W. Ich wusste es, weil ich diese Jacke an dem Totengeist gesehen hatte, der im Garten des Rapture herumgeschlichen war und den ich erst gestern wiedergesehen hatte, als er mich anzüglich angrinste. Durch den Ring einer Handschelle, die an seinem Handgelenk baumelte.
NEUNUNDDREISSIG
Durch eine einfache Google-Suche kam ich in die Bibliothek der Westbury Highschool, die nördlich des Stadtteils Crosstown lag, in einer Gegend, die jahrelang vor sich hin gedümpelt hatte, die jetzt aber im Aufschwung war. Eine hübsche Bibliothekarin namens Emery Snow führte mich in einen Raum, in dem sämtliche Jahrbücher aufbewahrt wurden.
»Sie reichen zurück bis 1975«, sagte sie und fuhr mit dem Finger über die braunen und goldenen Bände. »In dem Jahr wurde Westbury eröffnet.«
Da Ethan schätzte, das Skelett sei mindestens zehn Jahre in der Kammer gewesen, nahm ich das als Anhaltspunkt und arbeite mich weiter nach hinten. Es war mühsam und ermüdend. Nach ein paar Büchern sahen die fröhlich strahlenden Gesichter alle gleich aus. Ich fragte mich allmählich, ob ich das Gesicht dieses Geistes überhaupt wiedererkennen würde.
Und dann fand ich ihn.
Sein Name war Clayton Masterson, und als ich auf sein Foto blickte, erfasste mich eine zutiefst düstere Stimmung. Er schürzte die Lippen ebenso höhnisch, wie ich es am Abend zuvor gesehen hatte, und seine Augen glühten ebenso voll tückischer Grausamkeit. Schaudernd blickte ich über die Schulter, um zu sehen, ob sich jemand – oder etwas – angeschlichen hatte.
Da war niemand, Gott sei Dank. Ich konnte Emery hinterdem Schreibtisch vor sich hin summen hören. Es tröstete mich, dass sie in der Nähe war, dass sie so normal war.
Ich schaute wieder auf das Foto hinunter und versuchte, so etwas wie Mitleid aufzubringen. Er war noch so jung gewesen, als man ihn brutal ermordet hatte, und seine Leiche war all die Jahre versteckt gewesen. Ich hätte irgendetwas fühlen müssen. Aber ich fühlte nichts. Ich konnte nur Hass in seinen Augen sehen, ein Gefühl, das direkt aus seiner Seele zu sickern schien. Kein Wunder, dass er ein gewaltsames Ende gefunden hatte.
Ich unterdrückte ein Zittern und nahm das Jahrbuch mit hinaus zu Emerys Schreibtisch. Es war Sommer, und deshalb war die Bibliothek fast leer und unheimlich still. Als ich das Buch vor ihr aufschlug, widerstand ich dem Drang, noch einmal über die Schulter zu sehen.
»Haben Sie denjenigen gefunden, nach dem Sie gesucht haben?«, fragte sie. Ich hatte ihr vorher nur ganz wenig erzählt, nur dass ich versuchte, einen ehemaligen Schüler
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