Totenreigen
Kleid sieht verblichen aus. Oder was sagen Sie dazu, Frau
Hoyer?«, sagte Lüthje. Fast so verblichen wie das Grau des Hauses, dachte
Lüthje. Sofern die Farbe Grau überhaupt verbleichen kann.
»Es hat irgendwie einen altmodischen Schnitt …«, sagte Hoyer, »… der
aber sehr elegant wirkt. Es ist alles drin, vom sündhaft teuren Modellkleid bis
zum zeitlos eleganten Fummel aus dem Secondhandshop. Aber die Farben, ich weiß
nicht …«
»Und Sie waren im Haus rechts?«, fragte Lüthje zu Vehrs gewandt.
Vehrs nickte. »Ein pensionierter Lehrer mit seinem Sohn. Der Vater
sagte, ihn interessiert die Nachbarschaft nicht. Sein Sohn ist behindert. Das
hat er nicht ausdrücklich gesagt, aber ich hatte den Eindruck.«
»Was war denn mit ihm?«, fragte Lüthje.
»Schwer zu sagen, der Sohn achtete mehr darauf, was sein Vater
sagte, wollte manchmal was sagen, aber brach dann immer ab.«
Das war bei mir früher auch so, dachte Lüthje.
»Wie alt ist der Sohn?«
»Schwer zu sagen, aber auch sicher vierzig.«
»Die Klockemann sieht uns sehr interessiert zu«, sagte Hoyer und
deutete zum Nachbarhaus.
An einem offenen Fenster im ersten Stock stützte sich eine Frau mit
verschränkten Armen auf ein Kissen und nickte den Polizisten freundlich zu, als
sie zu ihr hochsahen.
Lüthje wusste, was er als Nächstes tun würde, wenn er diesen Fall
übernehmen würde. Aber wenn er diesen Schritt machen würde, wäre er drin, und
niemand würde verstehen, wenn er danach einen Rückzieher machen würde.
»Herr Lüthje, es gibt das Gerücht, dass Sie diesen Fall nicht
übernehmen wollen, aber dazu gezwungen werden. Ist das wahr?«, fragte Hoyer.
Lüthje seufzte und bedeutete Hoyer und Vehrs, ihm zu folgen. Sie
verließen das Grundstück durch die hintere Gartentür und gingen den
Promenadenweg in Richtung Katzbek.
Lüthje war für seinen Tigerkäfiggang bei Besprechungen im Büro
bekannt und berüchtigt. Da es hier keinen Raum gab, in dem er den
Besprechungstisch umkreisen konnte, entschied er sich dazu, seinen Bewegungsdrang
durch einen Spaziergang zu kompensieren. Deshalb hatte er die Besprechung mit
Schackhaven am Strand ohne Schwierigkeiten überstanden.
»Waren Sie schon in diesen Häusern hier im Promenadenweg?«, fragte
Lüthje. »Einige haben möglicherweise einen guten Blick auf den Hofgarten der
Grauburg. Eigentlich müsste dort jemandem zumindest das Kleid an der Hauswand
aufgefallen sein. Außerdem halte ich es für wahrscheinlich, dass der Täter von
hinten auf das Grundstück gekommen ist, also diesen Weg gegangen ist. Am
besten, Sie fangen gleich an, sobald wir hier fertig sind.«
»Hier fertig? Was meinen Sie?«, fragte Vehrs.
Hoyer sah nach oben und verdrehte die Augen.
Sie waren an der Einmündung zum Katzbek angekommen und blieben
stehen. Hoyer schien etwas sagen zu wollen, aber Lüthje ignorierte sie.
»Möglich, dass der Täter durch den Park gegangen ist, über die
Straße und dann hier in den Promenadenweg.«
Lüthje hielt einen Moment inne und fixierte einen Punkt auf der
anderen Straßenseite, sah dann Hoyer und Vehrs an und sagte: »Da rechts, in der
Ecke des Parks, ist mein ehemaliger Kindergarten. Die Niederdeutsche Bühne der
›Laboer Lachmöwen‹ hat sich einfach noch ein paar Räume herumgebaut. Damals im
Kindergarten haben viele Kinder aus dem Oberdorf noch Platt gesprochen, so wie
ihre Eltern. Und wir Kinder haben ziemlich viel Theater gemacht. Es hat sich
also nicht viel geändert.«
Lüthje wandte sich um und ging zurück. Wahrscheinlich hielten ihn
die beiden für sentimental.
»Übernehmen Sie denn nun den Fall?«, fragte Hoyer und lief ihm
hinterher. »Wenn ja, tun Sie es freiwillig? Wir müssen wissen, ob Sie
dahinterstehen.«
»Ja, ich weiß«, sagte Lüthje und ging noch schneller. »Ihr Chef
Malbek steht immer hundertprozentig hinter allem, was er tut. Nur deshalb
stehen Sie auch hinter ihm, auch wenn es manchmal nicht einfach ist mit ihm.
Aber ich möchte, dass Sie mich verstehen. Das ist meine Heimat, mein Geburtsort,
über zwanzig Jahre habe ich hier gelebt. Es gibt immer noch ein paar Leute, die
mich kennen. Ich riskiere den Verlust meiner Heimat, wenn ich hier herumwühle
und als Ermittler Unfrieden stifte. Ich kann hier nicht mehr zum Bäcker gehen,
ohne dass mich irgendjemand erkennt und sagt, der hat mich verdächtigt, es
spricht sich herum, und der Einkauf im Supermarkt oder der Spaziergang auf der
Strandpromenade kann zum Spießrutenlauf werden.«
»Ist das in
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