Totenwache - Thriller
Einschätzung. Ich hatte schon befürchtet, dass Sie mich beleidigen wollen. Nein, Dr. Polchak, mir geht es nicht ums Geld. Vielleicht interessiert es Sie ja, dass ich persönlich von unseren Aktivitäten keinerlei finanzielle Vorteile habe.«
»Oh, wie nobel.«
»Nein, gar nicht. Ich habe nichts gegen Geld. Nur dass für mich persönlich andere Motive im Vordergrund stehen.«
»Zum Beispiel?«
»Gerechtigkeit.«
Nick sah ihn verwundert an. »Damit meinen Sie wahrscheinlich die ›obligatorische Organspende‹?«, sagte er. »Das ist doch Ihr großes Thema - richtig?«
»Sehr gut, Dr. Polchak. Ihre Kombinationsgabe ist wirklich bemerkenswert.«
Nick beugte sich ein Stück vor. »Soweit ich im Bilde bin, fordern die Befürworter der obligatorischen Organentnahme aber lediglich die Genehmigung, die Organe Verstorbener als Transplantate zu verwenden. Die Leute, deren Organe Sie rauben, sind aber noch am Leben. Wie absurd, dass ausgerechnet Sie sich als Ethiker bezeichnen.«
»Meinen Sie? Und wieso?«
»Schon mal daran gedacht, dass das, was Sie da anstellen … ein Unrecht sein könnte?«
Zohar seufzte laut. »Na gut, reden wir also über Recht und Unrecht. Nehmen wir an, ein Mann mit im Übrigen gesunden Organen schießt sich ein Loch in den Kopf. Mit den Organen, den Geweben und den Corneae dieses Mannes könnte man über zweihundert Menschen helfen. Trotzdem hat der Mann das Recht, seine lebensrettenden Gewebe aus reiner Selbstsucht oder auch aus Desinteresse mit ins Grab zu nehmen. Das heißt, wir billigen ihm das Recht zu, nicht nur sich selbst, sondern auch andere zu töten.«
»Ja, aber so will es nun mal das Gesetz.« »Aber doppeltes Unrecht schafft noch lange kein Recht, Dr. Polchak. Oder ein anderes Beispiel: Ein reicher Mann liegt auf dem Sterbebett. Er lässt seine drei engsten Freunde zu sich kommen und sagt zu ihnen: ›Ich möchte mein Geld
mit ins Grab nehmen.‹ Dann überreicht er jedem der drei einen Umschlag mit einer Million Dollar in bar und sagt: ›Ich erwarte von euch, dass ihr die drei Kuverts in mein Grab werft, wenn es zugeschaufelt wird.‹ Beim Begräbnis tut jeder der drei wie geheißen und wirft seinen Umschlag in das Grab. Später treffen die drei sich zufällig wieder. Der erste sagt: ›Ich muss euch etwas beichten: Ich habe fünfzigtausend Dollar für mich behalten.‹ Der zweite sagt: ›Ich habe hunderttausend Dollar abgezweigt.‹ Schließlich erklärt der dritte: ›Was ihr da sagt, überrascht mich. Ich habe nämlich einen Scheck über die gesamte Summe in das Grab geworfen.‹«
Nick schwieg.
»Schade, Sie enttäuschen mich. Eigentlich hatte ich von Ihnen etwas mehr Humor erwartet.«
»Ich bin derzeit nicht in der Stimmung für Witze.«
»Aber das war doch kein Witz, Dr. Polchak, sondern ein Gleichnis. Die Frage hinter diesem Gleichnis lautet: Hätten Sie das Kuvert in das Grab geworfen? Genau das geschieht nämlich jeden Tag tausendfach - und ich halte das für ein Verbrechen.«
»Ein Verbrechen, das schwerer wiegt als Ihre eigenen kriminellen Aktivitäten? Schwerer als die Ermordung unschuldiger Menschen?«
»Unschuldiger Menschen? Schauen wir uns die Sache doch mal etwas näher an. Der Mann, der nach offizieller Lesart aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen worden ist, war Ehemann und Vater. Sind Sie zufällig auch darüber informiert, dass er ein notorischer Gewalttäter war? Dass seine Frau sich nicht von ihm getrennt hat, obwohl sie sich zweimal einer plastischen Operation unterziehen musste, weil er ihr Gesicht vollkommen ruiniert hat? Wer weiß, vielleicht hätte er sie demnächst totgeschlagen. Doch
wie die Dinge stehen, hat er sogar ein Leben gerettet«, sagte er und sah Nick an.
»Und das ›Herzinfarkt‹-Opfer, das man irgendwo tot auf der Straße gefunden hat - wussten Sie, dass der Mann schon vor vielen Jahren in der Gosse gelandet war? Das ist die Wahrheit. Ein hoffnungsloser Alkoholiker. Außerdem hat er mit hoher Wahrscheinlichkeit unter einer Leberzirrhose gelitten. Zu unserem Glück kümmern wir uns lediglich um die Beschaffung von Spendernieren - wenigstens bislang.«
»Und wie kommt es, dass Sie so genau über Ihre unfreiwilligen Spender informiert sind?«
»Wissen Sie, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene, Dr. Polchak? Wissen Sie, was ich in den vergangenen vierzig Jahren gemacht habe? Ich sammle Informationen über andere Leute. Dabei gelange ich zu gewissen Schlussfolgerungen - genau wie Sie es in Ihrem Metier tun. Und genau
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