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Totenwache

Totenwache

Titel: Totenwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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Die Schwiegermutter versprach, währenddessen auf die Kinder aufzupassen. Ein Geben und ein Nehmen also. Bei einem unangemeldeten Besuch geht man das Risiko ein, unverhofft zum Babysitter zu werden.

6
    »Meine Mama ist ein Engel und mein Vater ist Schlosser. Er weiß gar nicht, wie er ohne mich zurechtkommen würde. Ich habe eine Taube dort im Käfig. Die heißt Arrak. Ich habe sie gefragt: Wie heißt du denn? Und da hat sie gesagt: Arrak. Darum heißt sie Arrak.«
    »Wie heißt du denn?«, fragte Maria den Mann im Overall, der ihnen das Tor aufmachte, damit sie auf den Hof fahren konnten. Sie konnte sein Alter nicht schätzen, aber ohne Zweifel war er geistig behindert, Downsyndrom.
    »Gustav Arne Herbert Hägg. Ich wohne hier und helfe meinem Papa, damit hier alles läuft. Ich bin 34 Jahre und kann Mundharmonika spielen, willst du mal hören?«, fragte Gustav und schob die Brille auf der Nase hoch.
    »Vielleicht nachher. Ist dein Papa drinnen?«
    »Klar. Er ist im Schlafzimmer und holt Tauben heraus. Morgen ist Wettkampf bei der Brücke der Wichtelmännchen. Ivan ist auch da. Wir wollen Eierkuchen essen und Kaffee mit Schuss trinken. Ivan kann ›Mutters kleiner Olle‹ auswendig und er kann wie Donald Duck sprechen. Er hat keine Nägel. Früher hatte er Klauen, aber die sind ihm mit einer Kneifzange ausgerissen worden. Einen Schnabel hat er nie gehabt.« Maria fragte sich im Stillen, ob Ivan ein Mensch oder ein Vogel war, ließ das aber auf sich beruhen und blickte auf die Uhr. Für jemanden, der ihn nicht kannte, war es nicht ganz leicht zu verstehen, was Gustav sagte, seine Zunge lag den Worten sozusagen im Wege.
    Sie gingen den frisch geharkten Schotterweg entlang, vorbei an dem Rondell mit der Fahnenstange und hinauf zu dem kleinen grauen Haus, das mit Eternitplatten verkleidet war.
    »Dein Papa will ein Auto von mir kaufen«, sagte Krister.
    »Er ist oben im Schlafzimmer. Wir haben Tauben im Schlafzimmer. Das ist so harmonisch.«
    »Ist das harmonisch?«, lächelte Maria zu dem schlitzäugigen und kurzgeschorenen Gustav.
    »Ja, man kann die Tauben ansehen, wenn man einschlafen will, und sie ansehen, wenn man aufwacht. Und wenn es in der Nacht ganz still ist, hört man sie gurren.«
    Und richtig. Als sie die Treppe hinaufgestolpert waren, auf der schmutzige Wäsche, Taubenkäfige und andere undefinierbare Dinge in wüsten Haufen übereinander lagen, konnten sie die Glaswand sehen, die den Schlafraum unter dem Dach in zwei Teile teilte, einen Schlafteil mit zwei hohen Bettgestellen in dunkler Eiche und einen Taubenschlag mit Glastür zum Schlafzimmer. Beide Betten waren so hingestellt worden, dass man die Tauben voll im Blick hatte, wenn man im Bett lag. Hinter der Glaswand hörte man ein gewaltiges Flattern und Gurren, wenn die Tauben aus ihren Nestern aufflogen. Zwei Tauben kämpften miteinander, sodass die Federn und der Taubenkot nur so umherflogen. Mehrere Vögel verließen ihre Sitzstangen und schwebten zum Fenster hinaus in den grauer werdenden Himmel. Mitten im Schlafzimmer stand ein großer Schreibtisch; die zwei Männer dahinter stellten sich als Egil Hägg und Ivan Sirén vor.
    Die eine der kämpfenden Tauben hatte begonnen, der anderen auf den Kopf zu hacken. Egil klopfte an die Scheibe, und daraufhin ließen sie eine Weile voneinander ab.
    »Es ist lächerlich, dass man die Taube als Friedenssymbol ausgewählt hat«, lachte er vor sich hin. »Mir fällt kein anderes Tier ein, das aggressiver ist und andere mehr tyrannisiert als dieser Vogel. Dagegen ist die Taube ein schönes Symbol für Treue. Sie leben in Paaren zusammen und sind ein Leben lang umeinander bemüht.« Sorgfältig studierten Ivan und Egil die Schwungfedern der Tauben, um festzulegen, welche Tiere morgen zum Wettkampf mitgenommen werden sollten. Noch standen zwei Käfige leer da. Männchen, deren Weibchen brüteten, waren die am stärksten motivierten Flieger, konnte Egil erklären. Gustav nahm seinen Arrak aus dem Transportkäfig, eine hübsche braune Taube mit weißen Schwungfedern und weißem Kopf. Sie sahen sich ähnlich, Vater und Sohn, wie sie da in ihren Overalls standen. Beide mit intensiv blauen Augen, stupsnasig und rundlich. Ivan Sirén war das genaue Gegenteil. Mit seinem langen weißen Haar und dem ergrauten Bart sah er aus wie ein Prophet, der nach vierzig Tagen Fasten und Mühsal aus der Wüste zurückgekommen ist. Ein magerer Typ, kein Weihnachtsmann. Von weitem hatte man den Eindruck, als ob er nicht weit vom

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