Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Merkwürdig. Ich war der Meinung gewesen, er hätte ein Auge auf mich geworfen, und jetzt ließ er mich so einfach fallen? Wenn ich mich selbst schon bisweilen als erbärmlich empfand, wie erbärmlich waren dann erst
diese beiden
? Bonde Madsen hatte vorher zu allem Überfluss noch in meinem Büro gesessen und mitbekommen, wie ich den Praktikanten der
Fyens Stiftstidene
mit der Standardantwort, dass nur die Polizei sich zu laufenden Ermittlungen äußern durfte, abgefertigt hatte. War das hier wirklich die willkommene Gelegenheit, mich zu diskreditieren, damit sie mich ein für alle Mal abservieren konnten und Karoly mein freches Mundwerk und mein grimmiges Gesicht endlich los war? Wahrscheinlich sollte ich auf diese Weise lernen, dass sich Frauen im Revier des leitenden Rechtsmediziners etwas … kooperativer zu zeigen hatten. Damit ich nach Kopenhagen zurückging und dort das Gerücht streute, dass Rechtsmedizinerinnen in Odense nur willkommen waren, wenn sie dafür sorgten, dass auch ihr Chef ab und an auf seine Kosten kam.
Ich stand in meinem Büro, kochte vor Empörung und versuchte nachzudenken. Sah mich um. Natürlich, möglich war alles, aber auf diese Weise? Ich blieb eine ganze Weile stehen, zitterte vor Wut und spürte, wie meine Gedanken sich in einen zunehmend finsteren Brei verwandelten. Dann aber erblickte ich mein Diktiergerät, das neben dem Telefon auf meinem Schreibtisch lag, ein Olympus DS-2400, nicht gerade das neueste Modell, aber doch moderner als die der anderen und im höchsten Maße digital. Schweinebacke und Bonde Madsen arbeiteten noch immer mit ihren steinzeitlichen Mikrokassetten. Ich schnappte mir das Diktiergerät, steckte es in die Tasche und ging nach oben zu Nkem. Sie saß in ihrem Büro und hatte sich wieder in einen Artikel vertieft.
»Bist du fertig? Sollen wir fahren?«
»Einen Augenblick noch«, sagte sie, ohne die Augen vom Papier zu nehmen.
»Ich warte draußen«, sagte ich, schlüpfte durch die Tür und versuchte meine Wut loszuwerden, indem ich im Flur auf und ab ging. Als Nkem schließlich mit der Tasche über der Schulter in der Tür auftauchte, eilte ich auf sie zu.
»Ich bin suspendiert und habe Schlüssel und Karte abgeliefert, aber hör zu«, sagte ich und gab ihr das Diktiergerät. »Am Montag musst du mit Helle reden. Und dicht bei ihr stehen.«
Nkem sah mit zusammengezogenen Augenbrauen vom Diktiergerät zu mir und wieder zurück, bis plötzlich Leben in ihre Mundwinkel kam. Dann war ihr tiefes, rollendes Lachen zu hören. »Okay.« Endlich war sie wieder die Meine, und unsere wortkarge Kommunikation war wieder voll funktionsfähig.
»Und ich gehe eine Runde in den Park …«
»Nein!«, rief Nkem, blieb wie angewurzelt auf dem leeren Flur stehen und richtete ihren schwarzen Blick mit all der in ihr aufgestauten Mütterlichkeit auf mich. »Das darfst du nicht.«
Ich hatte im Laufe des Jahres so oft versucht, ihr zu erklären, wie wichtig es für mich war, dass mich hin und wieder jemand kniff, damit ich nicht schlafend durchs Leben lief. Und manchmal, wenn ich mein Leben nicht mehr richtig überschauen konnte, reichte Kneifen eben nicht mehr aus. Die einfachste Art und Weise war es da, mich freiwillig vollkommen überrumpeln zu lassen.
»Doch«, sagte ich, »das darf ich. Und das brauche ich. Komm!« Ich zog sie weiter, und sie folgte mir. Schließlich sagte ich: »Die Finsternis nimmt ihren Lauf.«
»Was?«
»Ach, das habe ich neulich im Radio gehört. Soll wohl bedeuten, dass wir immer tiefer in die Scheiße sinken.«
ODENSE, 18.–19. JULI 2009
17
Ich schloss die Tür meiner Wohnung hinter mir, holte mit noch immer zitternden Fingern mein Handy heraus und rief Steno an. Es klingelte endlos. Ich sah auf meine Uhr. Es war nach zwölf und eigentlich schon ziemlich lange hell. Irgendwann meldete er sich schließlich.
»Mmm.« Seine Stimme erinnerte mich an den Geruch des Morgens, das Gefühl einer verschwitzten Matratze und einer noch warmen Decke.
»Steno?«
»Mmm.« Er schien eine harte Nacht hinter sich zu haben. Ich stellte mir seine Lippen vor, wie sie sich langsam und mühsam öffneten. Ich hatte seine Lippen nie gesehen, ich hatte ihn nie gesehen. Er war nur eine Stimme am Telefon, aber eine Stimme, deren Nuancen ich kannte.
»Hier ist Maria. Habe ich dich geweckt?«, fragte ich überflüssigerweise.
»Was glaubst du denn?«, fragte er und räusperte sich.
»Ich brauche einen Spaziergang im Park. Heute Nacht, hier bei
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