Toter Mann
fürchtete sich vor der Morgendämmerung.
In Örgryte war es noch genauso still wie vorher. Hier war nichts passiert. Ansonsten geschah überall alles gleichzeitig, dachte Winter.
Als er an der Haustür klingelte, fiel ihm der Name der Tochter ein, Tova. Das war ein hübscher Name. Sie würde aus dem Schlaf in diese Höllennacht gerissen werden. Schlaf war Geborgenheit, und er kam mit einer Todesnachricht. Er hatte es so oft getan, dass es zum Teil seines Jobs geworden war. Aber die Kinder. Tova und Erik. Er konnte nicht bis zum Morgen warten. Sie würden ohnehin zu Hause sein. Es war Sonntag. Aber es war brutal. Er sah Bertil an, der missgelaunt auf die Tür starrte. Winter klingelte noch einmal und drehte sich um. Auf der Straße stand nur sein Auto. Es glänzte bedrohlich im Licht einer altmodischen Straßenlaterne. In Örgryte hinkte die Zeit hinterher, so war es häufig in den feineren Gegenden. Aber jetzt hatte die Zeit Örgryte eingeholt.
In der Diele ging Licht an. Das Fenster in der Tür bestand nur aus einem schmalen Rechteck. Das Licht wirkte klein und erschrocken, wie die Flamme einer Kerze. Es schien zu flackern. Winter sah auf die Uhr. Bald kam die Morgendämmerung.
»Was ist? Wer ist da?«
Es war Berit Richardssons Stimme. Winter hatte kein Gesicht in dem Fensterchen gesehen, es war zu hoch angebracht für die Menschen in diesem Haus. Nun ging auch im Obergeschoss Licht an. Tova und Erik waren aufgewacht.
»Erik Winter«, sagte er, »und Kommissar Bertil Ringmar.« »Was ... wollen Sie?«
»Bitte machen Sie auf«, sagte Winter.
Wieder flackerte das Licht. Sie hat eine Taschenlampe, dachte er. Eine Taschenlampe neben dem Bett. Für nächtliche Besuche. Wir sind nicht die Ersten.
Das Licht hinter dem Türfenster wurde plötzlich heller. Die Tür wurde aufgeschlossen.
Winter sah das Gesicht der Frau. Diese Augen hatte er heute Abend schon einmal gesehen. Zuerst in Ytterby. Dann in Kungsladugård. Meet the family.
»Was ist, Mama?« Von irgendwoher ertönte die Stimme des Jungen.
»Es ... es ist die Polizei, Erik. Es ist ... es ist ... sie wollen mir etwas sagen. Es ... geh ins Bett. Es dauert nicht lange.« »Aber ...«
»Geh rauf und leg dich hin!«, sagte sie mit scharfer Stimme. Winter hörte Schritte auf der Treppe. Auch das war nicht das erste Mal an diesem Abend. Die Schritte waren jedoch schneller und leichter.
Sie öffnete ihnen die Tür.
»Es ist mitten in der Nacht«, sagte sie.
»Es tut mir leid«, sagte Winter. »Können wir uns irgendwo setzen?«
»Was ist passiert?« Ihr Gesicht war weiß und schön in der hässlichen Dielenbeleuchtung. Es war nicht aus Eis wie das ihres Bruders, aber es war genauso weiß. Jetzt, wo er es wusste, fiel Winter auf, wie ähnlich sie sich sahen. Es bestand kein Zweifel.
»Was ist passiert?«, wiederholte sie. »Ich sehe Ihnen doch an, dass etwas passiert ist!« »Können wir uns set ...«
»Es geht um Roger! Ist ihm etwas zugestoßen?« Winter nickte.
»Was hat er mit ihm gemacht?!«
»Er?«, sagte Winter. »Wen meinen Sie?«
»Mein Gott! Ich hab gesagt ... ich hab gesagt, er soll ... soll ...« Sie schien zu schwanken.
Winter legte einen Arm um ihre Schultern. »Setzen wir uns irgendwo hin«, sagte er. Er kannte sich jetzt hier aus. Als er nach oben schaute, sah er das Gesicht des Mädchens. Tova. Sie stand auf der Treppe. Es war das gleiche Gesicht, noch einmal das gleiche weiße Gesicht.
Winter nickte ihr zu. Das Mädchen drehte sich auf der Stelle um und verschwand wortlos. Sie trug ein weiß blau gemustertes Nachthemd.
Er führte Berit Richardsson zu einem Sessel im Wohnzimmer.
Sie ließ sich niedersinken. Er setzte sich ihr gegenüber. Ringmar blieb an der Tür stehen. Er sollte vielleicht nach oben zu den Kindern gehen und mit ihnen sprechen.
»Ich gehe nach oben«, sagte er. Winter nickte.
»Ist er tot?« Berit Richardsson sah auf. »Ist Roger tot?« »Ja.«
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Winter sah, dass ihre Schultern zuckten, als hätten sie einen Schlag bekommen. Er wartete. Sie zitterte noch einmal, dann schaute sie auf.
»Was ist passiert?«
»Wir wissen es nicht. Deswegen sind wir hier. Wir haben Ihren Bruder heute Nacht in einer Wohnung gefunden. Er wurde erschossen.«
»Erschossen?«
»Ja, jemand hat ihn erschossen«, sagte Winter. »Dort? Ist es dort passiert?«
»Das wissen wir noch nicht, aber ich glaube, ja.« Warum fragt sie das?, dachte Winter. »Jetzt ist die Spurensicherung dort. Bald werden wir
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