Toter Mann
Unausweichliches. Als ob Jan Richardsson nicht da gewesen war, weil er einfach nicht dort sein sollte. Weil es zu dieser Story gehörte. Winter betrachtete seine Fälle manchmal wie Storys. Erzählungen. Sie wurden erzählt, während er sie erlebte. Er schrieb an seinen Mordbibeln oder Verbrechensbibeln, und regelmäßig oder unregelmäßig las er nach, was er erlebte. Manchmal konnte er etwas hinzufügen oder etwas streichen. Manchmal gelang es ihm, das Puzzle zu vollenden. Und hin und wieder unternahm er den Versuch, in das Mysterium einzudringen. Es bestand ein Unterschied zwischen Puzzle und Mysterium. Bei einem Puzzle waren alle Teile vorhanden, sie waren da, die Lösung war da, man musste die Teile nur an die richtige Stelle legen. Alles war zugänglich, für seine Finger, sein Gehirn, seine Gedanken, seine Phantasie. Er konnte die Teile immer wieder neu zusammenfügen, und das bewirkte ein bestimmtes Gefühl der Sicherheit, nein, nicht Sicherheit, Ruhe vielleicht, etwas, das ihm Gewissheit gab, dass er die Lösung schließlich finden würde. Aber ein Mysterium war etwas anderes. Es war nicht einmal ein Puzzle, dem einige Teile fehlten. Es war schlimmer als das, komplizierter, die Suche nach Antworten, wo es vielleicht keine Antworten gab. Wo es nie Antworten gegeben hatte, keine Antwort auf die Fragen »warum?« und »was?«. Bei einem Mysterium handelte es sich um eine verlängerte Frustration, bei einem Puzzle um ein Geduldsspiel. Das Verschwinden des Politikers, verbunden mit anderen Ereignissen, war im Augenblick ein Mysterium. Auf diese Art konnte ein Puzzle tatsächlich eine ganze Serie kleiner Mysterien sein, die nichts anderes waren als Teile eines größeren Puzzles. So musste man denken, so dachte er. Vielleicht gehört alles zusammen. Alles. Auch das Unbegreifliche hat ein Verfallsdatum. Dann wird es eher zu langweiligem, alltäglichem Scheiß. Puzzles sind Alltag. Mysterien sind wie die ganze Woche Samstag.
»Sie weiß jedenfalls nicht, wo er ist«, sagte Winter. »Wenn doch, ist sie eine hervorragende Schauspielerin.« »Ahnt sie etwas?«
»Vielleicht.«
»Und davon will sie uns nichts erzählen«, sagte Ringmar. »Nein.«
»Ihr Mann ist die ganze Nacht weggeblieben, und in seinem Auto haben wir einen Ermordeten gefunden«, sagte Ringmar. »Vielleicht hat sie eine Ahnung, worum es eigentlich geht.«
»Ja.«
»Inwiefern?«
»Er ist auch früher schon nachts weggeblieben.« »Wo war er?«
Winter antwortete nicht.
»Sie weiß, wohin er geht«, sagte Ringmar. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Sie weiß, was er tut.«
»Vielleicht hat sie einen Verdacht.« »Was für einen Verdacht?«
»Es hängt mit Sellberg zusammen.« »Kennt sie Sellberg?«
»Nein.«
»Bist du sicher?«
»Ich glaube, ja«, sagte Winter. »Aber da war irgendwas ...«
»Wie meinst du das?«, fragte Winter. »Als wüsste sie trotzdem etwas.« »Was denn?«
»Dass Sellberg nur ein Name ist. Verstehst du? Es könnte jeder Name sein, aber sie wusste, dass ... es ein Name sein würde. Dass ein Name kommen würde. Dass wir einen Namen nennen würden. Den sie nicht unbedingt kennen würde.«
»Dass ihr Mann auf irgendeine Weise mit einem Namen verknüpft sein würde? Einem Namen, den es nicht geben sollte. Dass er durch einen Namen kompromittiert werden würde?«
»Ja.«
»Unter derart gewaltsamen Umständen?«
»Nicht unbedingt. Aber dass er mit irgendwas in Verbindung gebracht werden würde.«
»Richardsson hatte geheime Treffen«, sagte Winter. »Ja.«
»Mit Männern.«
»Vielleicht.«
»Geheime Treffen mit Männern«, fasste Winter zusammen. »Also ist er schwul«, sagte Ringmar.
»Möglicherweise.«
»Das ist kein Verbrechen.«
»Nein. Ein Glück, dass uns wenigstens dieses Verbrechen erspart bleibt.«
»Dann war Sellberg vielleicht auch schwul«, sagte Ringmar. »Ja.«
»Ein Beziehungsdrama ?«
»Hat es so ausgesehen, Bertil?«
»Wie sieht ein solches Drama aus? Beziehungsdramen können viele Facetten haben.«
Ringmar dachte an das Parkdeck. Die Farbe war grau und blau gewesen, keine Farbe der blauen Stunde. Keine Leidenschaft, keine Romantik, keine Erotik in diesem Bild. Aber das war sein augenblicklicher Eindruck. Eben hatten sie das Bild gesehen, doch es wirkte bereits fern, wie eine andere Jahreszeit oder eine andere Zeit, eine bessere Zeit. Vielleicht eine leidenschaftliche Zeit.
»Hat Berit Richardsson ihren Mann in Verdacht, dass er fremdgeht?«
»Ja.«
»Andere Frauen?«
»Nein. Das glaube
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