Totgeschwiegen
abnehmenden Mond und korrigierte die Lautstärke ihres Handys, damit sie ihre Stiefschwester über das Zirpen der Zikaden hinweg hören konnte.
“Ja.”
“Und was hat er gesagt?”
Madelines Stimme zitterte leicht, als sie antwortete. “Er sagte, es täte ihm leid, was ich alles durchgemacht hätte, und dass er meinen Vater nicht umgebracht hat.”
Grace lag in ihrer Hängematte und erfreute sich an dem Duft von Rosmarin und Anis, der aus dem Garten aufstieg. Sie setzte sich auf. “Glaubst du ihm?”
“Ich denke schon.”
Madeline klang niedergeschlagen, und Grace fühlte sich schuldig, weil sie erleichtert war. Trotz seines schlechten Charakters war Lee Barker seiner leiblichen Tochter ein guter Vater.
“Er war sehr herzlich und schien überhaupt nicht böse zu sein.”
“Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dich angerufen hätte, wenn er der wäre, der am … Verschwinden von Dad schuld ist”, sagte Grace.
“Ich weiß. Nur … ich habe trotzdem noch ein paar Fragen.”
Die hatte Grace auch, aber es waren nicht die gleichen. Grace wollte herausfinden, wie Jed in den Besitz der Bibel gekommen war und warum er sie so lange versteckt hatte.
“Ich habe ihn gefragt, warum er damals aus der Kirche ausgetreten ist.”
“Was hat er dazu gesagt?”
“Ein Mann muss seinem Herzen folgen.”
Grace lüftete ihre Haare im Nacken, damit der kühle abendliche Windhauch darüber streichen konnte. “Aus Jeds Mund klingt das ganz schön großspurig. Was glaubst du, hat er damit gemeint?”
“Ich habe ihn danach gefragt. Er sagte, er verehre Gott auf seine Art und brauche niemanden wie meinen Vater, der ihm vorschreibt, wie er sein Leben führen soll.”
“Das klingt so, als hättest du mehr aus ihm herausbekommen als die meisten anderen Menschen”, stellte Grace fest.
“Ich habe schon gespürt, dass ich ihm leidtat und dass er sich bemühte, mir die Sache zu erleichtern.”
“Ich glaube, er mag dich. Als vor vielen Jahren untersucht wurde, ob er etwas mit dem Verschwinden von Dad zu tun hat, hat er nicht lautstark erklärt, er sei unschuldig, weißt du noch? Er hat einfach nur geschwiegen und sich um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert.”
“Wäre ich doch bloß nicht in seine Werkstatt eingebrochen”, sagte Madeline. “Er ist ja sehr eigen … aber ich glaube, er hat das Herz auf dem rechten Fleck.”
“Er ist ja sogar zu mir gekommen und hat ein paar Kekse gekauft”, sagte Grace.
“Wirklich?”
“Ich hatte den Eindruck, er wollte mir sagen, dass er mich so akzeptiert, wie ich bin.” Grace schluckte. Irgendwie berührte es sie, dass Jed so auf sie zugegangen war.
“Er weiß aber nicht, dass du mit dabei warst, oder?”, fragte Madeline.
“Schwer zu sagen. Wer hat ihm denn erzählt, dass du es gewesen bist?”
“Keine Ahnung. Aber in Stillwater verbreiten sich alle Neuigkeiten wie ein Lauffeuer. Guck dir nur mal all die Briefe und E-Mails an, die an die Zeitung geschickt wurden.”
“Und was ist mit McCormick?”
“Was soll mit ihm sein? Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch er weiß, dass ich es war. Aber er hat mich noch nicht darauf angesprochen. Wenn Jed mich nicht anzeigt, wird er wahrscheinlich einfach darüber hinwegsehen.”
Falls Jed herausfand, dass die Bibel verschwunden war, würde er womöglich dahinterkommen, dass Madeline nicht allein gewesen war. Sie hätte über ihren Fund doch sicherlich in der Zeitung berichtet. “Ich glaube nicht, dass er mich in Verdacht hat”, sagte Grace.
“Gut. Ich bin genug unter Beschuss für uns beide.”
“Was steht in diesen Briefen?”
“Manche äußern Verständnis. Andere kritisieren mich, weil ich eigenmächtig gehandelt habe. Am hässlichsten ist der Brief, in dem mir jemand vorschlägt, ich sollte doch erst mal meine Familie an den Lügendetektor anschließen, bevor ich andere Leute belästige.”
Grace hielt die Luft an. Madeline hatte noch nie vorher von einem Lügendetektor gesprochen. Fing sie an, sich Fragen zu stellen? Mit dem Gedanken zu spielen, ob ihr eine Maschine vielleicht sagen könnte, ob die, die sie liebte, die Wahrheit sagten – oder nicht? Das musste verlockend sein.
Der bloße Gedanke daran machte Grace Angst, aber sie konnte nicht einfach über Madelines Worte hinweggehen. “Meinst du, das würde etwas bringen?”, fragte sie und spürte, wie ihr Herz heftiger pochte. “Sollen wir einen Lügendetektortest machen?”
“Natürlich nicht”, sagte Madeline. “Ich vertraue euch. Das
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