Traumfrau (German Edition)
stand er auf und setzte sich auf die Toilette. Für Sekunden konnte er wieder tief durchatmen, hatte Platz gemacht für das Ding, das da in ihm wuchs, doch schon füllte es auch diesen Raum aus, presste die Gedärme von innen gegen die Haut, und ein neuer Blutschwall schoss aus der Nase.
Du musst aus dieser Sache aussteigen. Du hältst das nicht durch. So geht es nicht weiter. Du musst wieder zu deinem normalen Leben zurückfinden. Du hast Uschi geheiratet, weil du sie wolltest. Man kann nicht einfach so aus seiner Haut heraus; du bist, wie du bist. Ein Bauer aus Ichtenhagen. Kein Playboy aus Frankfurt ... Kein Kinderschänder aus dem Ruhrgebiet ... Du hast die Frau, die du verdienst.
Dann stand er vor dem Waschbecken und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er wusch das verschmierte Blut ab und pfropfte sich Wattebäuschchen in die Nasenlöcher.
Alle erwarteten von ihm, dass er mit ihr schlief. Aber er wollte nicht. Er hatte Angst davor. Jahrelang, jahrzehntelang, hatte er sich in seinen Träumen nach so einem Frauenkörper gesehnt. Gerade weil er unerfüllbar war, quälte ihn dieser Wunsch um so intensiver. Er wollte nicht sterben, ohne so eine Frau berührt zu haben, eine mit richtigen Hüften, mit einem Körper, wie er ihn aus Illustrierten kannte und aus Filmen. Die Vereinigung mit diesem Körper sollte ihn größer machen. Schöner und ihn vor sich selbst aufwerten. Jetzt, da er vor der Erfüllung seiner Träume stand, spürte er nur noch eins: Angst.
Vielleicht, dachte er, ist es grausamer, seine Träume zu verwirklichen, als ein Leben lang einem Traum nachzurennen, den man nie zu packen kriegt. Früher konnte er wenigstens noch im Bett liegen und phantasieren. Abgestoßen von dem hässlichen Körper seiner Frau, entfloh er nachts zu seinen Traumfrauen. Unbeobachtet und unbeschwert ließ er sich von ihnen verwöhnen, vögelte sich mit ihnen in den Schlaf. Nicht einmal das funktionierte jetzt noch. Seine Träume waren nicht mehr unbeschwert. Plötzlich tauchten Polizisten darin auf. Er war Angeklagter vor einem Tribunal, Frauen spuckten ihn an, bewarfen ihn mit Schleim und Dreck und, was das Schlimmste war, er war in seinen Träumen nicht mehr unbeobachtet. Uschi, die Schildkröte, kroch hindurch. Sie lauerte überall, sah alles und richtete ihn am Ende für seine schändlichen Taten. Sie war in seine Träume eingebrochen und dort zum allwissenden, richtenden Gott geworden. Sie hatte mehr Macht über ihn als jemals zuvor.
Um seine alten Träume zurückzugewinnen, musste er aussteigen. Er wollte keinen Anteil an der Frau besitzen. Wollte nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Wünschte sich stattdessen seine Ruhe am Tag und seine Träume in der Nacht zurück. Die Geschichte mit Mary würde sowieso auffliegen. Nur ein Idiot konnte glauben, in einem Dorf wie Ichtenhagen sei so etwas geheim zu halten.
Erneut begann das Zimmer zu trudeln. Er schloss die Augen.
„Sie werden dich zwingen, mit ihr zu schlafen”, raunte eine wabernde Stimme in sein rechtes Ohr. Obwohl die Stimme sehr leise war, drohte sie, sein Trommelfell zu sprengen.
Sie werden dich zwingen, mit ihr zu schlafen. Sie werden dich zwingen, dich schuldig zu machen. Nur dann sind sie wirklich vor dir sicher. Du musst zum Mittäter werden, damit sie ruhig schlafen können. Einen reinen Mitwisser können sie nicht gebrauchen. Nur wenn du schuldig wirst, bist du ungefährlich für sie. Bevor du nicht mit ihr schläfst, werden sie dich nicht aus deinem Vertrag entlassen.”
Er trank noch ein Glas Wasser, fühlte sich schon wesentlich stabiler und legte sich erschöpft wieder hin. Diesmal tauchte die Schildkröte in seinem Traum nicht auf. Er versuchte, es allen recht zu machen. Um Hans Wirbitzki und Martin Schöller zufrieden zu stellen, stieg er zu Mary ins Bett. Er brachte ihr Eier, Milch und Pralinen mit. Er war zärtlich zu ihr und sie weinte vor Glück, weil noch nie ein Mann vorher so nett zu ihr gewesen war. Es machte ihr Spaß, mit ihm zu schlafen, doch das zeigte sie nicht, weil sie sich genierte. Aus Dankbarkeit gab er ihr die Freiheit. Er fand eine Tür im Haus, die es bis dato nicht gegeben hatte. Sie flohen durch ein langes Kellergewölbe, bewegliche Marmorstatuen bewachten die Eingangstüren, einige hatten Gesichter wie Hermann Segler und Günther Ichtenhagen. Alle aber muskulöse Körper wie Martin Schöller.
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Niemand fehlte. Sie kamen alle, um von Hermann Segler Abschied zu nehmen und die trauernde Witwe am Grab
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