Traumschlange
wenigstens trug er nicht länger Ketten. Langsam setzte er sich auf; er verharrte, weil die Bewegung ihm ein Schwindelgefühl verursachte, und sah sich um. Als er auf dem Korridor Schritte vernahm, sprang er auf, torkelte, raffte sich hochund spähte durch die kleine, vergitterte Öffnung in der Tür. Eilig entfernten sich die Schritte.
»Ist das die Art, wie man in diesem Ort Besucher behandelt?« brüllte Arevin. Sein ausgeglichenes Gemüt brauchte, um außer Fassung zu geraten, ein beträchtliches Maß an Behelligung, aber nun war er wirklich zornig.
Niemand antwortete. Er löste seine Fäuste vom Gitter und ließ sich wieder am Fußboden nieder. Außerhalb seiner Zelle konnte er nichts sehen als eine weitere steinerne Wand. Das Fenster befand sich zu hoch, um hinausblicken zu können, selbst wenn er das aus dicken Brettern gezimmerte Bett daruntergeschoben hätte. Alles Licht in dem kleinen Raum konzentrierte sich in einem verwaschenen, andeutungsweise sonnigen Fleck, der durchs Fenster an die Wand fiel. Man hatte Arevin die Wüstenrobe und die Stiefel weggenommen, ihm nur die lange, weite Reithose gelassen. Allmählich beruhigte er sich und fügte sich ins Warten.
Durch den steinernen Korridor näherten sich seiner Zelle saumselige Schritte – ein Lahmer mit einem Stock. Diesmal wartete Arevin ganz einfach. Schlüssel klirrten, und die Tür schwang auf. Zuerst traten Wächter ein, ausgestattet mit den gleichen Abzeichen wie jenes Paar, das ihn am Abend angegriffen hatte. Sie verhielten sich vorsichtig, und nun waren sie sogar zu dritt; das verwunderte Arevin, da er ja nicht einmal die zwei am gestrigen Abend zu überwältigen vermocht hatte. Er besaß wenig Erfahrungen in Handgreiflichkeiten. Bei seinem Stamm trennten die Erwachsenen nachsichtig Kinder, die miteinander rauften, und versuchten ihnen beizubringen, wie man seine Meinungsverschiedenheiten mit Worten statt mit Gewalt klärte. Ein hochgewachsener Mann betrat die Zelle, gestützt nicht nur auf einen Stock, sondern auch von einem Helfer. Arevin grüßte nicht und stand nicht auf. Für einen ausgedehnten Moment starrten sie einander ohne ein Wimpernzukken an.
»Die Heilerin ist wohlauf«, sagte der große, dunkelhaarige Mann, »auf jeden Fall, solange du ihr vom Leibe bleibst.«
Sein Helfer ließ ihn für einen Augenblick stehen, um aus dem Korridor einen Stuhl hereinzuschieben. Als der Mann sich setzte, sah Arevin, daß er nicht von Geburt an behindert war, sondern eine Verletzung erlitten hatte; sein Bein war von einem dicken Verband umhüllt.
»Sie hat auch dir geholfen«, sagte Arevin. »Warum also verfolgst du jene Leute, die nach ihr suchen?«
»Du spielst den Gesunden gut. Aber ich erwarte, daß du spätestens in einigen Tagen wieder zu toben anfängst.«
»Ich bezweifle nicht, daß ich zu toben beginne, wenn ich längere Zeit in diesem Loch gesessen habe«, sagte Arevin.
»Glaubst du etwa, wir ließen dich frei, damit du der Heilerin von neuem nachstellen kannst?«
»Ist sie hier?« fragte Arevin erregt und gab seine Zurückhaltung auf. »Wenn sie dich behandelt hat, muß sie sicher aus der Wüste gelangt sein.«
Der dunkelhaarige Riese musterte ihn einen Moment lang. »Es überrascht mich, dich von ihrer Sicherheit reden zu hören«, sagte er. »Aber vermutlich ist Unbeständigkeit etwas, womit man bei einem Verrückten rechnen muß.«
»Einem Verrückten?!«
»Bewahre Ruhe. Wir wissen von deinem Überfall auf sie.«
»Überfall? Ist sie überfallen worden? Wo ist sie?«
»Ich glaube, es ist für sie besser, wenn ich dir nichts sage.«
Arevin schaute zur Seite, forschte nach irgendeinem Weg, um seine Gedanken zu ordnen. Innerlich bewegte ihn eine sonderbare Mischung aus Verwirrung und Erleichterung. Zumindest also befand sich Schlange außerhalb der Wüste. Sie mußte in Sicherheit sein. Eine Scharte in einem Mauerstein widerspiegelte das Licht. Arevin starrte den hellen Funken an und bemühte sich um äußerste Gelassenheit. Er blickte auf, fast ein Lächeln auf den Lippen.
»Das ist ein törichter Einwand. Ersuche sie, zu mir zu kommen. Sie wird bestätigen, daß wir Freunde sind.«
»Ach, wirklich? Und was sollen wir ihr sagen, wer sie zu sehen wünscht?«
»Sage ihr... jener, dessen Namen sie kennt.«
Der Hüne schnitt ein böses Gesicht. »Ihr Barbaren mit eurem Aberglauben...«
»Sie weiß, wer ich bin.« Arevin widerstand der Versuchung, seinen Ärger zu zeigen.
»Du würdest der Heilerin unter die Augen
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