Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Trias

Titel: Trias Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Kayser
Vom Netzwerk:
Er schätzte, dass er breit genug war, um einen Mann von seiner Größe aufzunehmen. Er sog die Luft ein, die von unten kam. Sie roch nach Brot und Waffenöl.
    Vorsichtig und ohne zu riskieren, dass Steinbrocken durch den Schacht nach unten fielen, vergrößerte er das Rechteck. Als er glaubte, sich hindurchzwängen zu können, hielt er die Säge an und sah sich suchend um. Wo konnte er die Haken befestigen, die sein Gewicht von hielten, wenn er sich in den Schacht hinunterließ?
    Er zerrte an den Versorgungsleitungen, die von den Bädern und der Küche durch die Decken und die Böden irgendwo nach unten führten. Sie machten einen stabilen Eindruck. Er schlang ein dünnes Stahlseil um die Rohre, befestigte es mit zwei Karabinerhaken und führte die Seile über eine kleine Rolle, die er bei sich selbst am Gürtel und an den Stiefeln an Metallösen einhakte. Eine manuelle Winde erlaubte ihm, das Seil Zentimeter für Zentimeter abzurollen und so vorsichtig in die Tiefe zu gleiten. Croy stemmte sich auf die breite Steinkante der ausgesägten Wand, schloss alle Knöpfe seiner Westentaschen, spannte noch einmal seine Nachtsichtbrille fest und ließ sich vorsichtig kopfüber in den Schacht hinunter. Die Luft, die ihm entgegenschlug, roch faulig und feucht. Durch den Restlichtverstärker seiner Brille schimmerten die stockdunklen Wände wie in tiefem Meereswasser grünlich und hell; ihre Ausbuchtungen und Kanten hatten schwarze Rahmen. Das Tunnelende blieb für ihn noch unsichtbar.
    Wie in Zeitlupe glitt er mit dem Kopf voran in die Tiefe. Stück für Stück gab die Rolle das Seil frei, das ihn hart gespannt hielt. Blut pochte in seinen Schläfen. Wieder kamen die Gedanken an seinen Misserfolg in Semtin in ihm hoch. Welche Fehler er da gemacht hatte, würde er noch zu analysieren haben. Doch hier und jetzt war er zum Erfolg verdammt. Das letzte Mal hatte er während der Ausbildung kopfüber in Übungsschächten gehangen. Aber extreme Situationen, dachte er, erforderten einen extremen Einsatz. Dabei hielt er sich selbst nicht für übertrieben mutig. Aber wenn er merkte, dass nur besondere Anstrengungen zu einem bestimmten Ziel führten, und wenn er dieses Ziel um jeden Preis erreichen wollte, überwand er beinahe alles. So war es bei Shirley gewesen, als sie sich beide dagegengestemmt hatten, dass die Männer vom Staatssicherheitsdienst in ihre Beziehung eingriffen. Und später, als er seine Heimat für ein unbekanntes Land verließ. Es gehörte ganz sicher Mut dazu, sein ganzes Leben hinter sich zu lassen, ohne zu wissen, was einen auf der anderen Seite der Mauer erwartete. Und jetzt, da er kopfüber in einem Schacht hing, von dem er nicht wusste, ob er ihn jemals an sein Ziel brachte, empfand er ähnlich: Er fühlte Beklemmungen, aber er fühlte auch die Pflicht, sie zu überwinden.
    Je näher er dem Ende des Tunnels kam, umso verbrauchter roch die Luft, die von irgendwo da unten kam. Er griff nach der Flasche mit dem Sauerstoff und versprühte einige Stöße vor sich in die Tiefe. Auch der Lichteinfall verringerte sich dramatisch; trotz des hochempfindlichen Restlichtverstärkers konnte er kaum noch etwas sehen. Vorsichtig öffnete er eine seiner Westentaschen, ließ die winzige Taschenlampe in seine Hand gleiten und leuchtete den Tunnel ab. Jetzt sah er einen Gitterrost, der dick mit Feuchtpilzen bewachsen war und den Schacht verschloss. Noch 20 Zentimeter. Wie ein Schwimmer auf dem Startblock streckte er weit seine Arme über sich nach vorn. Mühelos hob er den schmierigen Rost von seinem Steinrahmen und lehnte ihn an das Mauerwerk. Croy löste die Atemmaske aus ihrer Tasche und stülpte sie sich über. Auf Pilzsporen in der Lunge konnte er verzichten. Außerdem blickte er jetzt direkt auf winzige Lichtschlitze, durch die kaum noch gesunde Atemluft zu ihm drang.
    Croy konzentrierte sich. Befand er sich jetzt direkt über dem geheimnisumwobenen Stollen, von dem Sydow am Abend gesprochen hatte? Wie kam er da hinein? Er ließ sich so weit hinunter, bis sein Kopf beinahe die Lichtschlitze berührte. Sein GPS-Gerät zeigte unter ihm keinerlei Bewegungen, dafür aber permanent einen roten Punkt. Das war nur der Peilsender, wusste Croy. Menschen schienen keine anwesend zu sein. Angestrengt lauschte er. Er hörte nichts als das leise Rauschen seines Blutes in den Ohren. Wie ein Turner griff er nach dem Seil, zog den Oberkörper nach oben und stellte sich auf die Füße. Dabei schwang er nur noch wenige Millimeter über dem

Weitere Kostenlose Bücher