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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Verfolgungsjagd, aber niemand guckte, als ich vorbeifuhr. Und ich fuhr – schneller denn je – zur Universität. Meine Gedanken eilten mir mit einer Geschwindigkeit voraus, wie ich es noch nie erlebt hatte. Und in dem Durcheinander von Plänen, Befürchtungen und Vermutungen stach ein Gedanke hervor. Ich begriff, dass ich so lange im Visier dieser Männer sein würde, wie ich meine Erinnerungen hatte. Es würde keine Rolle spielen, ob ich »The End of Mister Y« vernichtete. Es würde keine Rolle spielen, ob ich die Seite, die ich in meinem Schuh versteckt hatte, in kleine Fetzen zerriss. Wenn sie sich Zutritt zu meinem Kopf verschaffen konnten, konnten sie genauso an das Rezept für die Herstellung der Mixtur herankommen, wie Mr. Y die Geheimnisse von Will Hardys Geisterillusion erfahren hatte. Es wäre kinderleicht. Sie konnten es nicht von Lura bekommen, weil sie das Buch nicht gelesen hatte. Aber solange ich am Leben und bei Verstand blieb, konnten sie es von mir bekommen.
    Als ich den Wagen auf dem Parkplatz des Russell Building abstellte, kam ich mir vor, als wäre ich zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Als Teenager hatte ich Phantasien über das Leben eines tragischen Helden gehabt. Ich hatte gedacht, eine Art Glamour läge darin, Hamlet zu sein oder Lear. Aber jetzt sah ich den Tod; ich sah ihn mit größerer Sicherheit als den nächsten Tag. Ich erinnerte mich an eine Dissertation, die ich vor ein paar Jahren betreut hatte. Darin hatte der Student den Standpunkt vertreten, die amerikanischen Gangsterfilme der achtziger und neunziger Jahre seien postmoderne Tragödien. Er beharrte dabei auf einem Detail: dass niemand in diesen Gangsterfilmen entkommt. In unserer Gesellschaft – kurzgeschlossen durch Bits und Bytes – kann man nie völlig anonym sein. In dem Moment wurde mir klar, dass mich die Männer vom Project Starlight aufspüren würden, wo ich auch hinging, und sich nehmen würden, was ich wusste. Sie würden mein Bewusstsein vergewaltigen, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Gleichzeitig wurde mir klar, dass ich eine winzige Chance hatte, das zu verhindern. Ich konnte auf der Stelle verschwinden. Aber ich hatte nicht viel Zeit. Sie würden als Nächstes hierherkommen: Das wusste ich.
    Es war zu gefährlich, auf empirische Evidenz dafür zu warten, was sie tun würden. Ich musste von Apriori-Annahmen ausgehen, nämlich:
     
    – Die Männer wollten sich meines Wissens bemächtigen, was die Ingredienzien der Mixtur betraf.
    – Die Männer konnten dies durch drei verschiedene Methoden erreichen:
    – durch Folter,
    – durch Pedesis,
    – indem sie mir das Stück Papier mit Gewalt abnahmen.
     
    Ich kam zu dem Schluss, dass ich das Papier essen und der Folter vielleicht standhalten konnte, aber ich konnte nichts gegen Pedesis unternehmen. Ich wusste, dass jemand, der sich in der Troposphäre Zugang zu meinem Bewusstsein verschaffen wollte, nur in den Kopf von jemandem springen musste, der sich in meiner Nähe befand oder im Begriff war, mich zu sehen, und in dem Augenblick, da dieser andere Mensch mich sah, den endgültigen Sprung in mein Bewusstsein mit all meinem Wissen und meinen Erinnerungen vollziehen konnte. Theoretisch war es dem schlafenden Mann möglich, einfach in den Kopf seines Kollegen zu springen und ihn auf die Suche nach mir zu schicken.
    Deshalb musste ich verhindern, dass mich irgendjemand sah. Sobald ich in meinem Büro war, ließ ich die Jalousien runter, schloss die Vorhänge und verriegelte die Tür. Ich rauchte seit zwanzig Jahren nicht mehr, aber als ich eine Schachtel Zigaretten auf Ariels Schreibtisch liegen sah, nahm ich eine raus und zündete sie mir an. Ich hoffte inständig, einen Weg aus dieser verfahrenen Situation zu finden. Wohin konnte ich gehen, wo mich niemand sehen würde? Mein Geist füllte sich mit Bildern von Straßen und Einkaufszentren und Supermärkten. Wie viele Menschen würden mich an einem normalen Tag zu Gesicht bekommen? Hunderte? Tausende? Wohin ich meinen Geist auch wandern ließ, überall sah ich diese Kleckse Fleisch-und-Bewusstsein; das Detail, das auf keiner Landkarte auftaucht. Selbst wenn ich wieder in den Wagen stieg und wegfuhr, würde ich an Menschen vorbeikommen. Ich fragte mich, warum ich überhaupt in die Universität gefahren war; warum hatte ich mir ein Zimmer mit meinem Namen an der Tür als Versteck ausgesucht, ein Zimmer, dessen genaue Lage auf der Website der Universität verzeichnet ist, dazu

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