Troposphere
genaue Anfahrtsskizzen: wie man von irgendeinem Punkt auf dem Campus zu dem Gebäude mit den Instituten für Anglistik und Amerikanistik kommt; wie man zu Wasser, zu Land und aus der Luft zum Campus kommt. Ich rauchte und ging auf und ab. Ich fühlte mich in der Universität sicher. Das war's: Das war der Grund, warum ich hergekommen war. Aber nur, weil so viele Menschen da waren. Man fühlt sich in der Universität nie allein, und normalerweise sucht man in gefährlichen Situationen die Nähe anderer Menschen.
Drei oder vier Minuten verstrichen. Ich hörte Gelächter auf dem Korridor, zweifellos Max und die anderen, die aus der Bar kamen. Es spielte keine Rolle, dass ich die Tür zum Institut abgeschlossen hatte; jetzt würde sie gleich aufgeschlossen. Ich schaute mir den massiven Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch an. Vielleicht konnte ich sie mit Gewalt aufhalten? Nein. Man konnte mit körperlicher Gewalt nichts gegen kinetische Telepathie ausrichten. Ich zwang mich, schneller zu denken. Sollte ich die Seite in meinem Schuh vernichten? Ich konnte es nicht. Ich brachte es einfach nicht über mich. Warum war ich nicht aufs Geratewohl irgendwohin gefahren, als ich noch die Möglichkeit dazu gehabt hatte? Meine Gedanken rangelten verzweifelt miteinander, und ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich nur zwei Entscheidungen treffen musste: Was sollte ich mit der Seite machen? Und wo sollte ich als Nächstes hin? Bevor ich selber wusste, was ich da tat, hatte ich im obersten Bücherbord nach dem vierten Band der »Zoonomie« gegriffen. Vor langer Zeit, als ich Doktorand und meine Wohnungstür fast so dünn wie ein Vorhang war und jeder sie mit einer Kreditkarte aufmachen konnte, pflegte ich Geld in Büchern zu verstecken. Dahinter stand der Gedanke, dass Diebe nicht an Büchern interessiert und Bücher ohnehin dick sind. Ein kleiner Dieb wäre nicht in der Lage, rund tausend Bücher zu transportieren. Also ignorierte er sie. Er würde nicht, sagen wir: zehn aussuchen, um sie mitgehen zu lassen. Er würde sie alle ignorieren und sich auf den Videorecorder und die Mikrowelle konzentrieren. Aus dem Grund habe ich immer Sachen in willkürlich ausgewählten Büchern versteckt, Liebesbriefe, Pornographie, Kreditkarten. … Würde das jetzt auch funktionieren? Die Männer vom Project Starlight kannten eindeutig den Wert von Büchern. Ah, dachte ich, aber in diesem Punkt wird mir die Universität helfen. Ich kann die Seite verstecken und die Tür verschließen, und kein Fremder kann hier einfach reinkommen und meine Sachen durchsuchen. Und selbst wenn jemand das schaffte, würde er das Buch, das er haben wollte, nicht finden.
Und dann dachte ich: Wie lange werde ich wohl weg sein?
Ich hatte keine Ahnung.
Aber zumindest hatte ich nur ein Exemplar der fraglichen Information dabei – das Exemplar in meinem Kopf. Und obwohl ich wusste, dass ich ein viel zu großer Feigling war, dachte ich an Selbstmord als theoretisch letzte Zuflucht. Ich stellte mich auf einen Stuhl, um mich des zweiten Exemplars der fraglichen Information zu entledigen: der Seite in meinem Schuh.
Vielleicht war das dumm von mir, vielleicht hatte ich die Sache nicht zu Ende gedacht – aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendwer all die Bücher in meinem Regal durchging und sie ausschüttelte, bis ein geheimnisvolles Blatt herausfiel. Ich dachte, dass ich die wichtige Seite eines wichtigen Buchs schützte, indem ich dies tat. Warum die »Zoonomie«? Ich war mir nicht ganz sicher, aber irgendetwas sagte mir, dass dies das richtige Buch sei. Ariel Manto würde es nicht benutzen, davon hatte ich ihr abgeraten. Und wer sollte sich sonst für die »Zoonomie« interessieren? Ich legte die Seite irgendwo in die Mitte von Band IV und stellte ihn zurück ins Regal.
Ich wusste, dass das ein Fehler sein könnte, aber das war mir lieber, als die Seite zu vernichten. Vielleicht war es sogar ein verhängnisvoller Fehler? Vielleicht dachte ich aber auch, dass jemand, der die »Zoonomie« kennt – eindeutig ein Akademiker – und der außerdem die nötigen Ressourcen hat, die Verbindung zwischen der Seite und dem Buch herzustellen … Na ja, viel Glück! Vielleicht habe ich es mir gegenüber so gerechtfertigt. Wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß, hätte ich die Seite nie dagelassen. Aber jetzt komme ich nicht mehr dran. Ich kann nur hoffen, dass sie vernichtet worden ist.
Ich musste verschwinden. Aber wie verschwindet man in einem Gebäude voller
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