Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
nett zu dir. Sie stellen sich taub und tun so, als wärst du gar nicht krank.«
»Ich bin nicht –«
»Doch. Alkoholismus ist eine Krankheit, Dorothy Rae.«
»Ich bin keine Alkoholikerin!« protestierte sie weinerlich und sagte, was ihre Mutter vor Jahren auch immer gesagt hatte: »Ich trinke nur hin und wieder ein Glas –«
»Nein, du trinkst, um betrunken zu werden und zu bleiben. Du schwelgst in Selbstmitleid und wunderst dich, wenn dein Mann Lust auf andere Frauen bekommt. Sieh dich doch an. Du bist eine Katastrophe. Ist es ein Wunder, wenn Jack das Interesse an dir verloren hat?«
Dorothy Rae faßte nach dem Türgriff. »Das muß ich mir nicht anhören.«
»O doch.« Avery drehte den Spieß um und packte sie am Arm. »Es ist an der Zeit, daß jemand mal etwas strenger mit dir umgeht
und dir ein paar Dinge klarmacht. Niemand hat dir deinen Mann weggenommen, du hast ihn zurückgewiesen.«
»Das ist nicht wahr! Er hat geschworen, daß ich nicht der Grund war, warum er fortgegangen ist.«
»Fortgegangen ?«
»Erinnerst du dich nicht mehr? Das war kurz nachdem du und Tate geheiratet habt. Sechs Monate war er weg damals. Und das waren die längsten sechs Monate meines Lebens. Ich wußte nicht, wo er war, was er machte und ob er je zurückkommen würde.«
»Aber er ist zurückgekommen.«
»Und behauptete, er hätte eine Weile allein sein und dem Druck entrinnen müssen.«
»Welchem Druck?«
Dorothy Rae hob hilflos die Hand. »Oh, Nelsons Erwartungen in das Anwaltsbüro, Tates Wahlkampf, mein Trinken, Fancy.«
»Fancy braucht eine Mutter, Dorothy Rae. Sie hat Angst, daß sie niemand liebt.« Avery holte tief Luft. »Und manchmal sieht es aus, als hätte sie recht.«
»Ich versuche alles«, jammerte Doroty Rae. »Aber sie ist unmöglich. Ich habe ihr immer alles gegeben, was sie wollte.«
»Du hast ihr genug Spielzeug geschenkt, damit sie dich nicht vom Trinken abhält. Du trauerst um die beiden Kinder, die du verloren hast, und vergißt das Kind, das du zur Welt gebracht hast.« Über diese Angelegenheit hatte Avery von Fancy Genaueres erfahren. Jetzt beugte sich Avery zu Dorothy Rae vor. »Fancy ist auf dem besten Weg, in ihr Verderben zu rennen. Sie braucht ihre Eltern und eine feste Hand. Und wenn ihr nicht bald etwas unternehmt, wird sie so weitermachen und noch mehr schlimme Dinge anstellen, nur damit sie eure Aufmerksamkeit bekommt. Und eines Tages wird sie zu weit gehen und dabei zu Schaden kommen.«
»Ach was«, sagte Dorothy Rae in einem Versuch, sich zu verteidigen. »Fancy ist nur ein trotziger Teenager.«
»Ach ja? Wußtest du, daß sie vor einiger Zeit nachts von einem Typen verprügelt wurde, den sie in irgendeiner Bar aufgelesen
hatte?« Dorothy Rae wurde blaß, aber Avery fuhr unbeirrt fort: »Ich bin kein Psychologe, aber ich glaube, daß Fancy echte Probleme hat.
Sie findet sich nicht der Liebe wert, weil sie nie von jemandem geliebt wurde. Und da ist noch etwas.« Avery entschloß sich, alle Vorsicht außer acht zu lassen. Schließlich ging es um das Wohlbefinden der jungen Frau. »Sie schläft mit Eddy Paschal.«
»Ich glaube dir nicht«, rief Dorothy Rae und schüttelte den Kopf. »Er könnte ihr Vater sein.«
»Ich habe sie in Houston früh morgens aus seinem Zimmer kommen sehen. Man sah ihr an, was sie die ganze Nacht getrieben hat. Und die Affäre ist immer noch im Gange.«
Dorothy Rae schwieg ein paar Sekunden, dann verengten sich ihre Augen. »Du mußt reden!«
»Du verstehst mich nicht«, sagte Avery. »Ich kritisiere nicht Fancys Moral. Ich mache mir Sorgen um sie. Kannst du dir vorstellen, daß ein Mann wie Eddy mehr von ihr wollen könnte als nur das eine? Nein. Aber ich finde vor allem bedenklich, daß Fancy glaubt, sie würde ihn lieben. Wenn er sie fallenläßt, würde seine Ablehnung ihre schlechte Meinung von sich selbst nur noch steigern.«
Dorothy Rae lachte verächtlich. »Meine Tochter hat eine unheimlich hohe Meinung von sich.«
»Und deswegen sammelt sie fremde Männer auf und läßt sich von ihnen in die Mangel nehmen? Läßt sie sich deswegen von einem Mann nach dem anderen behandeln, wie es ihm gerade Spaß macht? Bemüht sie sich deswegen um einen Mann, den sie nie ganz bekommen kann?« Avery schüttelte den Kopf. »Fancy kann sich selbst nicht leiden. Sie bestraft sich dafür, daß sie nicht liebenswert ist.«
Dorothy Rae zupfte an dem zerfetzten Papiertaschentuch. »Ich habe sie nie im Griff gehabt.«
»Weil du dich selbst nicht im Griff
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