Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken, bis
es weh tat, als könne er diese Idee damit aus seinem Kopf verbannen. Aber es ging einfach nicht.
Vor ein paar Tagen war er in Irishs Büro gegangen. Er hatte sich in einen Sessel fallen lassen und gefragt: »Hast du dir das Band angesehen, das ich dir gegeben habe?«
Irish machte, wie gewöhnlich, sechs Sachen gleichzeitig. Er fuhr sich mit der Hand über sein wirres graues Haar. »Band? Ach, das über Rutledge?« Irish hatte wieder angefangen zu rauchen, seit Avery nicht mehr da war, um ihn davon abzuhalten. Er schien die Zeit seines Nichtraucherdaseins wieder aufholen zu wollen. Er zündete eine neue Zigarette an der glimmenden Kippe der letzten an und fragte durch die Wolke ungefilterten Rauchs: »Bist du auf Stimmenfang für ihn?«
»Mein Gott«, murmelte Van und wollte schon aufstehen. Aber Irish gab ihm streitsüchtig ein Zeichen, sich wieder zu setzen. »Was sollte ich mir dabei denn ansehen? Im Besonderen, meine ich?«
»Die Frau.«
Irish hustete. »Bist du scharf auf sie?«
Van erinnerte sich, daß er sich darüber geärgert hatte, daß Irish die Ähnlichkeit zwischen Carol Rutledge und Avery Daniels nicht bemerkt hatte. Also hatte er wie zum Trotz gesagt: »Ich finde, sie sieht aus wie Avery.«
Irish sah Van scharf an. »Und, was ist daran schon neu? Das hat schon jemand festgestellt, als Rutledge seine politische Karriere begann.«
»Ich schätze, an dem Tag war ich nicht hier.«
»Oder du warst zu high, um dich noch daran zu erinnern.«
»Auch möglich.«
Irish arbeitete zur Zeit härter denn je, machte unnötig viele Überstunden. Alle in der Redaktion redeten darüber. Arbeit war seine Möglichkeit, den Kummer zu überwinden. Als guter Katholik würde er nicht Selbstmord begehen, aber er würde sich auf die Dauer umbringen durch zuviel Arbeit, zuviel Nikotin, Kaffee, Streß — alles das, wovon Avery ihm gesagt hatte, er solle es meiden.
»Bist du je dahintergekommen, wer dir ihren Schmuck geschickt
hat?« fragte Van. Irish hatte ihm von diesem eigenartigen Ereignis erzählt. Van hatte sofort daran gedacht, als er Carole Rutledge gegenüberstand.
Irish schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein.«
»Hast du’s versucht?«
»Mit ein paar Telefongesprächen.«
Offensichtlich wollte er nicht darüber reden. Aber Van blieb hartnäckig. »Und?«
»Da war ein Arschloch am Telefon, der nichts damit zu tun haben wollte. Er sagte, daß nach dem Absturz alles so chaotisch war, daß eigentlich alles möglich wäre.«
Wie die Verwechslung von Toten? fragte sich Van.
Er wollte die Frage auch laut stellen, tat es aber doch nicht. Irish versuchte, so gut er konnte, mit Averys Tod fertig zu werden, und es gelang ihm immer noch nicht besonders gut. Er brauchte Vans unbesonnene Hypothese nicht zu hören. Außerdem: Wenn Avery am Leben wäre, würde sie ihr eigenes Leben führen, nicht das einer anderen.
Also hatte Van seinen Verdacht Irish gegenüber nicht erwähnt. Seine Phantasie war einfach amokgelaufen. Er hatte einen Haufen schauriger Zufälle zusammengetragen und sie zu einer unlogischen, abartigen Theorie zusammengestellt.
Irish hätte wahrscheinlich gesagt, daß sein Gehirn von zuviel Dope ausgetrocknet wäre, was wahrscheinlich stimmte. Er war ein Arsch — eine Niete. Was wußte er schon?
Aber er legte trotzdem die nächste Rutledge-Kassette ein.
Der erste Schrei weckte sie. Den zweiten nahm sie bewußt wahr. Beim dritten schleuderte sie ihre Decke zur Seite und stolperte eilig aus dem Bett.
Avery schnappte sich einen Bademantel, riß ihre Schlafzimmertür auf und rannte den Flur entlang zu Mandys Zimmer. Wenige Sekunden nachdem sie ihr Bett verlassen hatte, beugte sie sich schon über das des Kindes. Mandy schlug wild um sich und schrie.
»Mandy, Süße, wach doch auf.« Avery griff nach einer fuchtelnden Faust.
»Mandy?«
Tate erschien an der anderen Seite des Bettes. Er kniete sich auf den Teppich und versuchte, seine Tochter festzuhalten. Aber trotzdem bäumte sich ihr kleiner Körper auf. Sie schrie unaufhörlich.
Avery legte ihre Hände auf Mandys Wangen. »Mandy, wach auf. Tate, was sollen wir tun?«
»Weiter versuchen, sie zu wecken.«
»Ist das wieder ein Alptraum?« fragte Zee, als sie mit Nelson hereineilte. »Wir konnten sie durchs ganze Haus schreien hören«, sagte er. »Arme Kleine.«
Avery klatschte leicht auf Mandys Wangen. »Ich bin’s, Mami. Mami und Papi sind hier. Es ist doch alles gut, Süße. Alles
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