Tschick (German Edition)
kaputtgegangen. Ich sprach sie lieber gar nicht erst an. Unterm Arm hielt sie eine Holzkiste, und ich war mir nicht sicher, ob sie die hier gefunden hatte oder ob sie darin etwas aufbewahrte oder was sie überhaupt hier suchte.
Am Ende traf ich mich mit Tschick auf dem größten Berg, und wir beide hatten nichts gefunden außer dem Zehn-Liter-Kanister. Aber was nützte der uns? Dieser Müllberg war ein Müllberg ohne Schläuche. Wir hockten ganz oben auf einer entkernten Waschmaschine, und die Sonne hing schon knapp über den Baumkronen. Das Rauschen der Autobahn war leiser geworden, der gebückte Mann und die kleinen Kinder waren nicht mehr zu sehen. Nur das dreckige Mädchen saß uns noch auf einem anderen Berg gegenüber. Ihre Beine hingen aus der offenen Tür einer alten Wohnzimmerschrankwand. Sie rief irgendwas in unsere Richtung.
«Was?», rief ich.
«Ihr Schwachköpfe!», rief sie.
«Bist du bescheuert?»
«Du hast mich gehört, Schwachkopf! Und dein Freund ist auch ein Schwachkopf!»
«Was ist denn das für eine Fotze?», sagte Tschick.
Lange sah man von dem Mädchen nur die Beine, die aus der Schrankwand baumelten. Dann setzte sie sich auf und fing an, ein Paar Stiefel anzuziehen, die neben ihr in einem Fach standen. Dabei guckte sie zu uns rüber.
«Ich hab was!», brüllte sie, womit sie offensichtlich nicht die Stiefel meinte. «Habt ihr auch was?»
«Geht dich einen Scheißdreck an!», brüllte Tschick zurück.
Sie hörte ein paar Sekunden auf, an den Stiefeln herumzuknoten. Dann beugte und streckte sie ihre Füße und rief: «Ihr seid doch zum Ficken zu blöd!»
«Steck dir ’n Finger in’ Arsch und halt’s Maul!»
«Russenschwuchtel!»
«Ich komm gleich rüber.»
«Der böse Mann will rüberkommen! Und was willst du machen, wenn du hier bist? Na los, komm doch. Komm her, Pussy. Ich fürchte mich jetzt schon.»
«Die tickt doch nicht sauber», sagte Tschick.
Die Kluft zwischen den Müllbergen war so steil, dass man mindestens drei Minuten gebraucht hätte, um rüberzuklettern.
Es blieb eine Weile still, dann rief sie wieder: «Was habt ihr denn gesucht?»
«Haufen Scheiße», sagte Tschick.
«Schläuche!», rief ich. Mir wurde dieses Gefluche langsam zu viel. «Wir haben Schläuche gesucht. Und du?»
Eine Krähe taumelte über die Berge hinweg und ließ sich rutschend auf einem großen Blech nieder. Das Mädchen antwortete nicht. Sie lehnte sich einfach wieder in die Schrankwand zurück.
«Und du?», rief ich.
Lange waren von ihr nur die dreckigen Waden zu sehen. Nach einer Weile wurde eine Hand sichtbar.
«Schläuche sind da drüben.»
«Was?»
«Da drüben.»
«Die will sich wichtig machen», sagte Tschick.
«Ich hab dich genau gehört!», brüllte das Mädchen in unglaublicher Lautstärke.
«Ja und?»
«Scheißkanake!»
«Wo drüben?», rief ich.
«Na, wo zeig ich denn hin?»
Man sah die Knie und die Hand, und, um ehrlich zu sein, die Hand zeigte irgendwo in den Himmel. Ein paar Minuten blieb es still. Ich stieg von unserem Müllberg runter und auf den von dem Mädchen rauf.
«Wo drüben?», fragte ich, als ich keuchend vor der Schrankwand stand.
Das Mädchen lag unbeweglich da und starrte auf meinen Hals. «Komm mal her. Los, komm her.»
«Wo drüben?», sagte ich, und plötzlich sprang sie auf. Ich machte erschrocken einen Schritt rückwärts und stürzte fast. Direkt hinter mir ging es ein paar Meter abwärts. «Weißt du jetzt, wo Schläuche sind, oder nicht?»
«Und du bist hier der Schwule mit dem Kanakenfreund, ja?» Sie wischte ein Stück Obst, das ich übersehen hatte, von meinem T-Shirt. Dann nahm sie ihre kleine Holzkiste aus dem Schrank, klemmte sie sich untern Arm und ging voran. Auf den nächsten Berg rauf und dann auf den übernächsten, und da blieb sie stehen und zeigte runter: «Da!»
Am Fuß vom Müllberg lag ein kleiner Haufen Altmetall und dahinter ein riesiger Haufen Schläuche. Lange Schläuche, kurze Schläuche, alle Arten von Schläuchen. Tschick, der uns auf Umwegen nachgeklettert war, griff sich sofort einen dicken Waschmaschinenschlauch. «Eingebaute Krümmung!», rief er und strahlte. Das Mädchen würdigte er keines Blickes.
«Krümmung ist Mist», sagte ich. Ich schraubte den Schlauch von einer Duschbrause ab.
«Wozu wollt ihr das?»
«Krümmung ist immer gut», sagte Tschick und hielt das gekrümmte Ende in den Kanister.
«Hey, ich frag dich was», sagte das Mädchen.
«Und was?»
«Wozu willst du das?»
«Für meinen
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