Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
zu beschuldigen. Das war die Sache mit dem Hybrid-Sein. Man konnte es niemandem ansehen.
Die Mullans würden die Ersten sein, auf die mit dem Finger gezeigt würde, mit ihrem fremden Blut und den seltsamen Bräuchen. Niemand mit einem Funken Verstand würde jetzt noch etwas mit ihnen zu tun haben wollen.
Und doch, und doch.
Ich sah Hallys Bruder im Flur stehen, erinnerte mich daran, wie sein Blick auf uns geruht hatte, erinnerte mich an jedes Wort, das aus seinem Mund gekommen war. Er hatte gesagt, ich würde mich wieder bewegen können. Er hatte gesagt, sie könnten es mir beibringen.
Was war, wenn er und seine Schwestern tatsächlich abgeholt würden? Ich würde womöglich jede einzelne, brennende Sekunde meines restlichen Lebens an diesen Tag zurückdenken, bereuen, dass ich nichts gesagt hatte, nichts getan hatte, meine Chance zu ergreifen versäumt hatte.
‹Wir gehen dorthin zurück›, sagte ich ruhig.
Addie machte sich nicht die Mühe zu antworten. Wir lagen da, das Gesicht in die Beuge unseres Ellbogens gepresst.
‹Wir gehen zurück, Addie›, sagte ich.
Devons Worte schwelten wie glühend heiße Kohlen in mir, sie verbrannten drei Jahre mühsam erkämpfte Akzeptanz zu Asche.
Das Feuer brüllte danach, herausgelassen zu werden, der Kehle, der Haut, den Augen zu entkommen, die ebenso meine wie Addies waren. Aber das konnte es nicht.
‹Hörst du überhaupt, was du da sagst?›, sagte Addie herausfordernd.
Normalerweise hätte ich ihr darauf keine Antwort gegeben. Ich hatte gelernt, nichts zu sagen, wann immer ich mich so fühlte. Zu schweigen und mir einzureden, es sei mir egal. Es war der einzige Weg, nicht verrückt zu werden, nicht zu sterben vor Sehnsucht – vor Begierde –, die eigenen Glieder zu bewegen. Ich konnte nicht weinen. Ich konnte nicht schreien. Ich konnte nur schweigen und mich damit abfinden, wie betäubt zu sein. Dann brauchte ich wenigstens nichts mehr zu fühlen, musste mich nicht endlos nach dem verzehren, was ich niemals haben konnte.
Aber nicht so heute. Heute konnte ich nicht schweigen.
‹Ja›, sagte ich. ‹Ich höre es und du hörst es. Aber niemand sonst, oder?›
Addie drehte sich auf die Seite, sodass wir die Wand anguckten. ‹Eva, kannst du … kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn das jemand herausfände?›
‹Ich weiß›, sagte ich. ‹Ich weiß, aber …›
‹Wir sind in Sicherheit›, sagte Addie. ‹Zum ersten Mal seit wir sechs waren, sind wir in Sicherheit, und das willst du einfach wegwerfen?›
Meine Stimme klang nun flehend, aber ich war zu verzweifelt, als dass es mir etwas ausgemacht hätte. ‹Es könnte meine einzige Chance sein, Addie. Ich muss es einfach riskieren …›
‹Es ist nicht allein dein Risiko.›
‹Du verstehst das nicht, Addie›, sagte ich. ‹Das kannst du nicht. Und das wirst du nie.›
Unsere Augenlider pressten sich zusammen. ‹Ich kann nicht dorthin zurückgehen›, sagte Addie. ‹Ich kann einfach nicht. Ich kann nicht.›
‹Aber ich muss!›
‹Nun, es ist nicht so, als hättest du die Wahl, oder?›, sagte Addie.
Mir war, als hätte sie die Fäden durchtrennt, die uns verbanden, und mich schutz- und haltlos zurückgelassen. Einen sehr langen Moment fehlten mir die Worte.
‹Schön›, stieß ich schließlich hervor. ‹Wie du willst. Offenbar spielt es keine Rolle, was mit mir ist.›
Einmal, ein paar Monate nach unserem dreizehnten Geburtstag, verschwand ich einfach.
Nur für fünf oder sechs Stunden, auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkam. Es war das Jahr, in dem Lyle krank wurde. Das Jahr, in dem wir herausfanden, dass seine Nieren ihn im Stich ließen, dass unser kleiner Bruder vielleicht nie erwachsen werden würde.
Plötzlich waren wir zurück auf jenen Krankenhausfluren. Nur dass dieses Mal nicht Addie und ich der Patient waren – sondern Lyle. Und so schrecklich Ersteres auch gewesen war, Letzteres war zehnmal schlimmer. Die Ärzte waren völlig andere, die Untersuchungen andere, die Art und Weise, wie sie ihn behandelten, war eine andere. Unsere Eltern jedoch waren ebenso verrückt vor Sorge, und Lyle, der auf dem Untersuchungstisch saß, war ebenso bleich und still, wie wir es gewesen waren.
Eines Nachts flüsterte er eine Frage in unser Ohr, als Addie auf der Kante seines Bettes saß und sich nach der Lampe streckte, um sie auszuschalten.
Falls er sterben würde, wäre er dann wieder mit Nathaniel zusammen?
Addie musste gegen den Kloß in unserem Hals ankämpfen, ehe
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