Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
sie wieder Luft bekam, geschweige denn antworten konnte. Wie es üblich war, hatte niemand Nathaniel erwähnt, seit er drei Jahre zuvor verschwunden war. Du wirst nicht sterben, hatte Addie gesagt.
Aber falls … hatte Lyle aufbegehrt, bevor sie ihm ins Wort fiel.
Du wirst nicht sterben, Lyle. Du wirst wieder gesund. Dir wird es bald besser gehen. Du wirst wieder gesund.
Sie war den Rest des Abends extrem gereizt, und wir gerieten uns wegen dämlicher Sachen in die Haare, bis der Streit eskalierte und sie mich anschrie, dass unser kleiner Bruder krank sei. Warum ich mich nicht wie ein Mensch benehmen und sie in Ruhe lassen könne? Und ich hatte zurückgebrüllt, sie sei doch mit dem Tod des einen kleinen Bruders wunderbar klargekommen, oder etwa nicht? Denn ich wollte sie so sehr verletzen, wie sie mich verletzt hatte.
Und ich hatte Angst, so ungeheure Angst.
Meine Angst war so groß, dass ich einen kurzen Moment lang nicht bei Addie sein wollte. Ich wollte nicht wissen, was der nächste Tag bringen würde, was Addie als Nächstes sagen, was mit unserem kleinen Bruder geschehen würde, der uns an diesem Tag gefragt hatte, ob er Nathaniel je wiedersehen würde.
Ich hatte mein ganzes Leben damit verbracht, mich festzuklammern. Plötzlich in die andere Richtung zu gehen, mich kleiner und kleiner zusammenzurollen, die Bande zu Addie und unserem Körper zu lösen, hatte mich mit Schrecken erfüllt. Aber ich war so wütend gewesen, so verletzt und so verängstigt …
Und ehe mir das volle Ausmaß dessen bewusst geworden war, was ich da tat, war es bereits geschehen.
Ich verbrachte jene Stunden in einer Welt bruchstückhafter Träume, während Addie panisch wurde und verzweifelt nach mir rief, damit ich zurückkäme. Das gab sie mehr als ein Jahr später schließlich zu, aber ich hatte ihre Furcht gespürt, als ich zurückkehrte, die Welt durch einen Schleier wahrnehmend und verwirrt. Ich hatte ihre Erleichterung gespürt.
Ich verschwand nie wieder, egal wie schlimm wir stritten. Egal, wie groß meine Angst war.
Aber an diesem Abend war ich drauf und dran. Ich tanzte den Abgrund entlang, zu ängstlich, um den Sprung zu wagen, aber wütend genug, um zu glauben, dass ich es vielleicht tun würde.
Ich weiß nicht, wer von uns mehr leidet, wenn Addie und ich nicht miteinander reden. Den ganzen Freitagabend und den Samstag lang keinen Ton zu sagen gab mir das Gefühl zu träumen. Die Welt zog an mir vorbei wie ein Film, fremd und unbegreiflich.
Addie hatte niemanden mehr, der sie an die Kleinigkeiten erinnerte. Sie vergaß, sich ein Handtuch zu holen, bevor sie unter die Dusche ging. Unser Wecker riss uns am Samstagmorgen um sieben Uhr aus dem Schlaf. Sie suchte überall außer auf dem Bücherregal nach unserer Bürste. Ich sagte nichts. Hatte ich nicht schon immer gewusst, dass sie ohne mich nicht klarkommen würde?
Ich lernte, wenn sie in Tagträumen versunken war oder damit überfordert, mehr zu tun, als unsere Augen auf den Text gerichtet zu halten und eine Seite umzublättern, wenn ich es ihr sagte. Ich legte Worte auf unsere Zunge, wenn sie zu nervös war, um etwas herauszubringen.
Und daher war es stets Addie, die nach ein paar Stunden einlenkte – höchstens nach einem Tag – und als Erste etwas sagte, wenn wir in beleidigtes Schweigen verfielen und uns weigerten, miteinander zu reden.
Aber der Samstag ging in den Sonntag über und Addie blieb stumm. Ich spürte die Leere neben mir, das unnachgiebige, pure Nichts, das mir zeigte, wie sehr sie darum kämpfte, ihre Gefühle unter Verschluss zu halten.
»Geht es dir gut?«, fragte Mom, als wir am Sonntagmorgen zum Frühstück herunterkamen. Ich spürte ihren Blick auf uns ruhen, während Addie den Küchenschrank öffnete und sich eine Müslischüssel nahm. »Du bist schon das ganze Wochenende so komisch.«
Addie wandte sich um. Unsere Wangenmuskulatur spannte sich an, verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ja, Mom. Mir geht es gut. Bin bloß ein bisschen müde, schätze ich.«
»Du hast dir doch nichts eingefangen, oder?«, fragte sie und stellte ihre Tasse ab, um unsere Stirn zu fühlen. Addie entzog sich ihr.
»Nein, Mom. Mir geht es gut. Echt.«
Mom nickte, runzelte aber nach wie vor die Stirn. »Lass Lyle trotzdem nicht aus deiner Tasse trinken, nur für alle Fälle. Er …«
»Ich weiß«, sagte Addie. »Ich lebe schließlich auch hier. Ich weiß.«
Uns blieb das Müsli im Halse stecken. Addie entsorgte den Rest in der Mülltonne.
Als sie zum
Weitere Kostenlose Bücher