Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
ihre Tochter hat sie womöglich die ganze Zeit über angelogen.«
‹Addie, sag etwas.›
»Das ist nicht wahr«, sagte Addie. Die Worte purzelten aus unserem Mund. »Das ist nicht … das ist nicht wahr.«
Mr Conivent ging über unsere Bemerkung hinweg, ohne auch nur im Geringsten die Stimme anzuheben. »Ihre Tochter könnte ein sehr krankes Kind sein, Mr Tamsyn, Mrs Tamsyn. Sie müssen verstehen, welche Konsequenzen es für ihr Leben haben könnte, wenn wir jetzt untätig blieben. Für das Leben von ihnen allen.« Keiner von unseren Eltern sagte etwas. Mr Conivents Stimme wurde schärfer. »Ein Kind, das der Hybridität verdächtigt wird, ist per Gesetz verpflichtet, sich den vorgesehenen Tests zu unterziehen.«
»Nur, wenn der Verdacht angemessen begründet ist«, sagte Dad. »Sie brauchen einen stichhaltigen Grund.«
Mr Conivent ließ ein kopiertes Blatt Papier auf den Tisch flattern. »Sie haben eine Vereinbarung unterzeichnet, als Addie zehn war, Mr Tamsyn. Als sie ihnen hätte weggenommen werden sollen. Die Behörden stimmten nur deshalb zu, sie bei ihnen zu lassen, weil Sie zustimmten, alle nötigen Untersuchungen zu gestatten, und zwar ohne Ausnahme …«
‹Nein›, sagte ich. ‹Nein, nein, Addie. Sag etwas. Sag bitte etwas.›
»Aber sie hat Frieden gefunden«, protestierte Dad. Sein Blick begegnete endlich unserem, seine Augen waren weit aufgerissen und verzweifelt. »Sie hat Frieden gefunden. Die Ärzte haben gesagt …«
‹Addie, Addie, Addie …›
‹Was?›, sagte sie. Ihre Stimme war unglaublich flach. ‹Was könnte ich schon sagen?›
Aber sie ergriff trotzdem das Wort, und unsere Stimme klang fester, als ich erwartet hatte. Zart, so leise, dass man sie kaum hörte, aber unerschütterlich. »Ich bin nicht krank.«
Gemessen an der Aufmerksamkeit, die unsere Worte erzielten, hätte man meinen können, Addie hätte geschrien.
»Sie sagt, sie sei nicht krank«, sagte Dad. »Die Ärzte, sie haben gemeint …«
»Ich befürchte, so einfach ist es nicht«, sagte Mr Conivent. Er stöberte erneut seine Papiere durch und kramte etwas hervor, das wie ein Computerausdruck aussah. »Haben Sie je von Refcon gehört?«
Dad zögerte, dann schüttelte er den Kopf.
»Es ist das, was wir eine Suppressionsdroge nennen, eine Substanz, die strengen Kontrollen unterliegt. Sie wirkt sich auf das Nervensystem aus und unterdrückt den dominanten Geist. In den richtigen Dosierungen eingenommen, unter den richtigen Umständen, könnte sie einen noch vorhandenen, rezessiven Geist befähigen, allmählich die Kontrolle über den Körper wiederzuerlangen.« Er reichte Mom das Blatt. Sie nahm es, als wäre sie in einem Traum gefangen.
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Dad. Er sah das Papier nicht einmal an.
Mr Conivent wandte sich uns zu. »Hast du irgendetwas dazu zu sagen, Addie?« Er wartete einen Moment ab, als sei er wirklich an unserer Antwort interessiert. Dann fuhr er mit der Stimme eines enttäuschten Lehrers fort: »Wir haben ein Fläschchen davon in Hally Mullans Nachttisch versteckt gefunden. Offenbar hat sie es in dem Krankenhaus gestohlen, in dem ihre Mutter arbeitet.«
Ein missmutiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, das erste Mal an diesem Abend, dass er ernsthaft besorgt wirkte. Dann war der Moment auch schon vorbei. Seine Miene brachte jetzt samtweichen Tadel zum Ausdruck. »Addie, du wusstest davon, oder?«
»Nein«, flüsterte Addie.
»Ich bin allmählich etwas verwirrt«, sagte Dad. »Repräsentieren Sie das Krankenhaus oder sind Sie als Ermittler hier? Versuchen Sie, meiner Tochter zu helfen, oder klagen Sie sie einer –«
»Ich versuche zu tun, was für alle das Beste ist«, sagte Mr Conivent. »Hally Mullan hat zugegeben, Addie Medizin verabreicht zu haben, in dem irrigen Versuch, Eva hervorzuholen …«
»Nein«, sagte Addie und sprang fast dabei vom Stuhl. »Nein, das hat sie nicht … Ich habe nicht …« Hatte Hally uns wirklich so einfach aufgegeben? Oder log dieser Mann das Blaue vom Himmel herunter? Ich konnte es nicht erkennen, und dieses Nichtwissen hatte zur Folge, dass wir uns nicht einmal verteidigen konnten. Unsere Eltern starrten uns voller schweigendem, entsetztem Grauen an. »Das ist niemals passiert«, sagte Addie, nachdem sie sich die Kontrolle über unsere Stimme zurückerobert hatte.
Mr Conivent Stimme glich einem Chamäleon. Zuerst hatte sie barsch geklungen. Dann herablassend. Dann tugendhaft. Und jetzt sanft. »Ich habe alle nötigen Papiere bei mir.
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