Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
Telefondrähte summten vor Schweigen.
»Addie?«, sagte unser Vater noch einmal.
Wir gaben keine Antwort.
Kapitel 20
Den Rest des Tages waren wir wie betäubt. Um uns herum waren zu viele Leute, zu viele Augenpaare. Die anderen Kinder. Die Krankenschwestern. Mr Conivent. Wir waren nie allein, und wir wünschten uns nichts mehr, als allein gelassen zu werden. Stattdessen schubsten sie uns von einem Raum in den nächsten. Eine Mahlzeit, eine Aktivität und wieder ein anderer Raum, immer unter Aufsicht, immer unter Beobachtung. Alles war Hintergrundrauschen, wie das statische Knistern eines Radios. Wieder und wieder versuchten Ryan oder Hally mit uns zu reden. Addie floh, wann immer sie zu nahe kamen, wandte unser Gesicht ab und schlängelte sich zwischen der Gruppe hindurch, bis wir so weit wie möglich von ihnen entfernt waren. Ich versuchte nicht, sie zu etwas anderem zu bewegen.
Endlich wurde es Abend. Wir stellten uns in einer Reihe auf und eine Krankenschwester führte uns durch die jetzt stillen Flure in den Flügel. Jenseits von Nornands Fenstern versank eine dotterfarbene Sonne langsam hinter dem Horizont. Einige der anderen nahmen ihre Medikamente ein, während der Rest von uns im Gemeinschaftsraum umherlief. Wir setzten uns auf einen der Stühle mit den unbequemen, harten Rückenlehnen und starrten den Teppich an.
»Addie?«, sagte Kitty und riss uns damit aus unseren Gedanken. »Wir müssen jetzt zurück in unser Zimmer.«
Addie folgte ihr schweigend. Auch Hally lief neben uns, sie knetete die Hände, ihre Blicke schossen zwischen uns und ihrem Bruder hin und her, der etwas mehr Abstand hielt. In dem Moment, als Addie vor unserer Tür ankam, schien Hally etwas sagen zu wollen, tat es dann aber doch nicht. Sie senkte den Blick und verschwand in dem Zimmer neben unserem.
Kitty schloss die Tür hinter uns. Unser Matchbeutel stand jetzt neben dem zweiten Bett, auf dem ein gefaltetes weißes Nachthemd lag. Addie machte sich nicht die Mühe, es anzuziehen. Sie kroch einfach unter die Bettdecke, noch nicht einmal unsere Schuhe streifte sie ab.
Nach ein paar Minuten gingen die Lichter aus. Endlich war es dunkel und Schluss mit dem Beobachten, dem bedeutungslosen Lärm. Addie biss die Zähne zusammen, aber die Tränen rannen dennoch hinter unseren Augenlidern hervor.
Schweigen. Dann ein Flüstern in der Nacht.
»Addie?« Kitty war aus ihrem Bett geschlüpft und tapste zu unserem herüber. Dunkelheit verbarg ihren Gesichtsausdruck vor uns. Wir sahen nichts als die weiche Kontur ihrer Nase, die runde Fülle ihrer Wangen und ihres Kinns. Ihre Stimme klang hoch und dünn wie ein melancholisches Schlaflied. »Addie, weinst du?« Addie wandte unser Gesicht der Wand zu, aber eine Hand strich über unsere Wange. »Addie?«
»Ja?«, flüsterte Addie.
Einen Augenblick lang erwiderte Kitty nichts. Ich nahm schon an, sie sei in ihr Bett zurückgekehrt. Doch Addie sah auf, und Kitty stand noch immer da, feenhafter als je zuvor in ihrem weißen Nachthemd.
»Manchmal …« Sie zögerte, dann fuhr sie fort. »Manchmal hilft es, wenn ich daran denke, was sie zu Hause gerade machen.« Als Addie den Blickkontakt nicht abbrach, schluckte Kitty und sagte: »Mit Sallie habe ich immer über zu Hause geredet. Über meine Brüder und Schwestern.«
»Sallie?«
Kitty nickte. »Sie war meine alte Zimmergenossin. Aber sie ist schon seit Monaten nicht mehr hier.«
»Wo ist sie hin?«, fragte Addie und stemmte uns langsam hoch. Sie lehnte sich zurück, bis unsere Schulterblätter an der Wand ruhten. Unsere Augen hatten sich nun ausreichend an die Dunkelheit gewöhnt, um Kittys zitternden Mund auszumachen.
»Sie haben uns gesagt, sie sei nach Hause gegangen«, sagte sie. »Wie Jaime.«
Schon wieder Jaime. Sollten wir es ihr sagen? Wäre das überhaupt gut?
»Addie?«
Etwas in ihrer Stimme veranlasste uns, gegen unsere Erschöpfung und die Stiche in unserer Magengrube anzukämpfen. Es war die gleiche Stimme, die Lyle benutzte, wenn wir allein mit ihm waren und er zu müde war, um sich Gedanken darüber zu machen, stark zu klingen.
Bei dem Gedanken an Lyle schnürte sich unsere Brust aufs Neue zusammen. Wenn diese Hölle überhaupt zu etwas gut war, dann wegen der Aussicht darauf, dass unser kleiner Bruder vielleicht die Chance bekommen würde, die wir alle uns so sehnsüchtig für ihn erhofft hatten.
Addie klopfte neben uns aufs Bett. Kitty zögerte, dann ließ sie sich auf unsere Matratze sinken und zog die Beine
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