Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
unfrisierbarer Oger. Das trifft auf Petra nach Wochen auf dieser Couch ebenfalls zu. In ihren Haaren hat sich ein trockenes Stück Thunfisch von einer Pizza verheddert.
»Mach das Licht weg!«, beschwert sich Petra.
»Traurig sein hat keinen Sinn«, sagt Wiebke, »die Sonne scheint auch weiterhin.«
»Das ist ja gerade die Schweinerei!«, klagt Petra. »Die Sonne scheint, als wäre nichts dabei!« Ihr Blick fällt auf den überfüllten Aschenbecher.
Petra grinst, lautlos und irre. Sie sagt: »Sieht aus wie ein betäubter Igel, dem man einen Filter auf jeden Stachel gesteckt hat, oder?«
Wiebke schüttelt den Kopf. Sie öffnet das Fenster.
Petra sagt: »Manchmal stelle ich mir vor, ich hätte Thomas dabei erwischt, wie er gerade seinen feigen Zwei-Satz-Abschiedszettel schreibt. Ich verwandele ihn in einen Igel, binde ihn mit seinen kleinen Beinchen vor mir auf dem Tisch fest und stecke jedes Mal, wenn ich aufgeraucht habe, die Kippe auf einen Stachel. Und er so, voll am Röcheln. Er kriegt ja nichts zu trinken. Und Igel müssen viel trinken, wusstest du das? Eine Kippe nach der anderen stecke ich drauf, bis Thomas voll ausgetrocknet ist und nur noch die Stachelmatte übrig bleibt.«
Wiebke fragt: »Weißt du, was für ein Tag heute ist?«
Petra schaut sie an. Von der Straße weht das freudige Gemurmel von Menschen durch das geöffnete Fenster, die sich auf den Weg zum Rosenmontagszug machen. Zwei Grüppchen treffen sich und grüßen einander über die Straße hinweg mit einem launigen »Kölle Alaaf!«
Petra schlägt die Hand vor die Stirn. Dann drückt sie ein paar Knöpfe auf dem Controller der Playstation. Auf dem Monitor steigt der Mann, den sie spielt, in einer schäbigen feuchtgrauen Gasse in einen schwarzen Wagen. In die Gasse fällt kaum Licht. Petra sagt: »Ich gehe nicht nach draußen. Mit Karneval kannst du mich jagen. Gute Laune auf Befehl. Klamauk auf Kommando.«
Wiebke antwortet: »Du stellst dir vor, dein Ex wäre ein gefesselter Igel, den du verhungern lässt, während du ihm Filter auf die Stacheln steckst. Klamauk auf Kommando ist genau das, was du jetzt brauchst.«
»Ich brauche eine Welt, in der ich machen kann, was ich will!«, sagt Petra und meint damit die Welt in ihrem Videospiel.
»Und genau die ist heute da draußen«, beharrt Wiebke. »Ehrlich. Der Karneval verwandelt die Stadt in das größte Open-World-Game, das du dir vorstellen kannst. Mit unendlich vielen Optionen.«
Petra zögert einen Moment. Sie zündet sich eine Zigarette an.
»Außerdem lautet das erste Kölsche Gesetz: Wer am Rosenmontag nicht auf die Straße geht, wird offiziell für tot erklärt.«
Petra sagt: »Lautet es nicht.«
»Doch«, beharrt Wiebke, »ich hab neue Paragrafen erfunden. Wenn du die anderen hören willst, musst du mit rauskommen.«
Es rührt Petra, dass ihre Freundin sich solche Mühe macht. Sie legt die Hand mit der unangerührten Zigarette auf dem Knie ab und sagt: »Wiebke. Ich bin selber wie dieser Igel. Underworked. Underfucked. Underentertained.«
»Dann komm mit!«
»Aber …«, Petra seufzt und verzieht das Gesicht, »ehrlich jetzt? Karneval?«
»Karneval ist ein cooles Spiel. Grand Jeck Auto. Da kannst du alles rauslassen. Regel Nummer zwei des neuen Kölschen Grundgesetzes: Wer zu viel in sich reinfrisst, muss sich einmal richtig auskotzen.«
Petra seufzt, schmälert die Augen zu Schlitzen und drückt die Zigarette am Igel aus. »Nimm das …«, flüstert sie.
Merke ➙ Mit dem Karneval verhält es sich wie mit dem Himmelreich. Er hat heilende Kräfte. Selbst bei denen, die nicht daran glauben.
Der Zug hat begonnen und die Musik der Kapellen liegt in der Luft, gemischt mit dem Jubel Tausender Menschen. Ein Teppich aus Klang. »Kamelle!«, schreien angetrunkene Frauen mit roten Wangen, und aus dem Himmel regnet es Zucker. Die Glücklichen, die auf den Festwagen stehen, werfen die Bonbons, Süßigkeiten und manche sogar ganze Merci-Schachteln gut verteilt in die vordere und die hintere Menge und manchmal sogar gezielt in offen stehende Fenster der Häuser, wo Großväter ihre kleinen Enkel mit großen Händen an der Hüfte auf der Fensterbank festhalten.
»So«, sagt Petra, schon wieder ganz miesepetrig, »und hier kann ich jetzt alles machen, oder was?«
»Ja«, antwortet Wiebke.
Petra sieht sich um. Am Straßenrand steht ein Mann Anfang dreißig, der sich als Jack Sparrow verkleidet hat und tatsächlich eine anziehende Ähnlichkeit mit Johnny Depp besitzt.
»Ich könnte
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