Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
Hubi fuchtelt mit den Händen in der Luft herum. Die Kette ist zu viel, denkt er, ich kann doch nicht Reizwäsche und dazu den Schmuck meiner Großtante tragen, das überschreitet eine Grenze, aber er spricht es nicht laut aus, da er seiner Mutter seit dreißig Jahren keine Grenzen aufzeigt. Täte er es, würde er längst nicht mehr bei ihr wohnen, wäre verheiratet und müsste heute nicht den Dorfplatz fegen. So aber drückt sie ihm – das kalte Kettenhäkchen ist längst im Nacken geschlossen – den Besen in die Hand, wartet bis er die Damenlederschuhe geschnürt hat und applaudiert wie eine Animateurin, als er hinter ihr aus dem Haus schreitet. Die Eingangstür ist mit Ballons und Girlanden geschmückt, gekrönt von einem Schild mit der Aufschrift Happy Birthday, du alte Socke! Die Freunde lachen Tränen, als sie ihn sehen, Sören rülpst Sekt und die Prozession setzt sich Richtung Dorfplatz in Bewegung.
Merke ➙ In der Großstadt ist alles ein Event und keiner macht mit, weil noch so viel anderes geboten wird. Auf dem Land ist alles ein Ereignis und alle machen mit, weil es das Einzige ist.
Während Hubis Prozessionsweg zum Dorfplatz stehen sämtliche Bewohner des Dorfes in ihren Vorgärten und winken. Frisör Mertens unterbricht einen Schnitt und dreht den Stuhl zum Fenster, damit der Kunde alles sehen kann. Auf dem Schulhof klingelt es früher zur Pause und kichernde Kinder kleben wie Käfer am Zaun, als Hubi mit gesenktem Kopf, verschämt den Besen schwenkend, vorübergeht. Seine Begleiter heben derweil die Arme wie Fußballfans und grölen: »Forever young! Forever young! I want to be forever young!«
Der kleine Umzug wirkt wie mit magnetischen Kräften bis in die Häuser hinein. Überall erscheint ein Gesicht, Katzen springen neben aufgestützte Rentner, Säuglinge werden von ihrer Mutter auf Sichthöhe gehoben. Die Anziehungskraft ist so stark, dass sogar der alte Brunswick, der mit dem Rücken zur bodentiefen Glasfenstertür schwerhörig vor dem Fernseher sitzt, in seinem Rollstuhl umgedreht und wie von Geisterhand zur Scheibe gezogen wird. Wo Hubi in Reizwäsche, den Besen in der Hand, entlangschreitet, füllt er die Fenster mit Menschen.
»Hättest du doch mal die Biene genommen, was?«, scherzt Sören. Die Biene ist die Tochter des Bildhauers, die ihm vor ein paar Jahren rollig wie ein Raufußkauz nachstellte, doch Hubi hatte Angst vor ihr. Sie war grob und gierig, einmal griff sie ihm in der Dorfdisco ohne Vorwarnung in den Schritt. Zärtliche Gefühle hat Hubi vielmehr für Vanessa. Sie bewegt sich, wie ihr Name klingt, feingliedrig und flüssig. Eleganz verbindet sie mit Verheißung. Die Bildhauertochter ist ein stumpfer Porno, die Tochter des Tanzlehrers ein eleganter Erotikroman, der die Haut keine Sekunde ganz entblößt und in dem der Stoff die Verheißung umso aufregender macht.
Auf dem Dorfplatz wartet noch mehr Publikum als in den Vorgärten und Hauseingängen. Die Chefin des Restaurants Hirschjäger ist da, Schuster Schweinsberg, der Dorfpolizist Koslowski, die ganze Familie des Schreibwarenhändlers und Bauer Ostkotte, der extra einen halben Zentner Heu hergefahren hat, damit es im Sommer, wo das Laub noch wie mit Pattex an den Bäumen klebt, für Hubi überhaupt was zu fegen gibt. Sogar der stellvertretende Bürgermeister lässt sich blicken. Er muss den Sekt, den Hubis Mutter nun in Plastikbechern herumreicht, allerdings ablehnen, da er offiziell im Dienst ist. Alle anderen greifen kräftig zu.
»Happy Birthday, du alte Socke!«, rufen sie und zupfen an seiner Stola. Die Gänsemagd und ihre Gans – zwei gusseiserne Statuen auf dem Dorfplatz – beobachten Hubis Vorführung. Doch nicht nur sie. Als er zu fegen beginnt, schieben sich vor jedes zweite Gesicht in der Menge Handys und Minikameras. Die Webcam an der Rückwand des Restaurant Hirschjäger , die sowieso rund um die Uhr Bilder des Dorfplatzes über die Internetpräsenz des Ortes in die Welt sendet, hat heute endlich was zu zeigen. Der Satellit von Google Earth macht exakt in diesem Moment eine Luftaufnahme in Hubis Ausschnitt. Bis zur nächsten Aktualisierung des Programms wird an diesem Fleckchen Erde also der fegende, als Frau verkleidete Junggeselle zu sehen sein. Torsten Potthoff schießt Fotos für Facebook und wer weiß, wofür noch. Im Sommerloch kann es passieren, dass ihm sogar die Lokalzeitung einen Halbseiter über das Dorfplatzfegen abkauft. Torsten Potthoff hieß nicht immer so. Er war ein Großteil seines
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