und der verschwiegene Verdacht
Geschichte von der Familie Tregallis bestätigen zu lassen. Peter hatte gegen den Willen seines Vaters gehandelt und Nanny Cole nicht gehorcht, und er hatte alles noch schlimmer gemacht, indem er hinterher gelogen hatte. Aber mehr war es auch nicht, und Emma fühlte sich so erleichtert, dass ihr fast schwindelig wurde.
»Ich sehe auch gar keinen Grund, warum dein Vater erfahren müsste, wo du warst«, sagte sie.
»Eigentlich braucht es niemand zu wissen, okay?«
Der Junge schluckte hart und nickte, dann lehnte er den Kopf an sie, so als habe die Beichte ihn seine ganze Kraft gekostet. Einen Moment dachte Emma, er sei eingeschlafen, aber dann sprach er wieder, mit so leiser Stimme, dass sie ihn kaum verstand.
»Dad sagt, sie ist vollkommen, und Grayson sagt, ihr Umhang müsste grau sein. Aber sie haben beide keine Ahnung.« Er seufzte. »Er müsste nämlich weiß sein.«
»So heißt es in der Legende«, stimmte Emma ihm zu.
»Es hat nichts mit der Legende zu tun«, sagte Peter bestimmt. »Ich weiß einfach, dass es so sein muss.«
Hätte Emma mehr Erfahrung im Umgang mit Kindern gehabt, dann hätte sie vielleicht versucht, ihn davon zu überzeugen, dass sein Vater es sicher am besten wisse. Aber Peter sprach mit solcher Überzeugung, dass sie sich bemühte, die Frau so zu sehen, wie Peter sie sah. Emma schloss die Augen und versuchte, sich die Dame mit Umhang und Kapuze ganz in Weiß vorzustellen.
Langsam gewann das Bild an Kraft. Streifen in Violett, Saphirblau und Aquamarin zogen sich über den stürmischen Himmel, das Meer war eine bewegte Fläche von Grüntönen mit silbernen Schaumkronen, und der Schein der Laterne durchdrang die Dunkelheit wie ein Blitz. Und wie sähe es jetzt aus, dachte Emma, wenn der Umhang und die Kapuze …
Das Bild stand mit überraschender Klarheit vor ihr. Der geblähte schwarze Umhang wurde zu einem weißen Flügelpaar, und die Kapuze umgab das schwarze Haar wie ein leuchtender Heiligenschein.
Mein Gott, dachte Emma, es ist ja ein Engel. Man konnte es nicht übersehen, und es gab auch keinen Zweifel mehr daran, wer dieser dunkelhaarige Engel nach Peters Auffassung war.
»Können Sie sie auch sehen?«, flüsterte Peter.
Emma nickte nur. Wie konnte man es nicht sehen? Derek musste gewusst haben, was aus dem Fenster werden würde, wenn er das Glas auswech-selte. War es zu schmerzhaft für ihn, hier an diesem einsamen Ort an das Bild seiner toten Frau erinnert zu werden?
»Auf Sie hört Dad bestimmt«, sagte Peter.
Emma wusste, was er von ihr erwartete, doch sie wollte sich weder in Dereks Arbeit noch in seine Trauer einmischen. Sie wollte die Kapelle verlassen und das Fenster vergessen, aber der Junge hielt sie fest und sah mit so viel Hoffnung und Vertrauen zu ihr auf, dass sie sich ihm nicht einfach entziehen konnte.
Wieder nickte sie. »Ich versuche es«, versprach sie. »Vielleicht wird es etwas dauern. Vielleicht wird es mir auch nicht gelingen. Aber ich versuche es.«
»Es wird gelingen«, sagte Peter, und leise fügte er hinzu: »Es muss.«
Emma erschauerte. »Es ist spät«, sagte sie. »Ich glaube, ich möchte jetzt schlafen gehen, und du?«
Peter stand auf und zusammen gingen sie ins Haus zurück und hinauf zu den Kinderzimmern, wo Nell auf Peter wartete. Sie saß auf dem Schaukelpferd, Bertie im Arm.
»Nanny Cole schnarcht schon wie ein Bär«, berichtete sie.
»Du solltest auch schon schlafen«, schalt Peter sie. Er hob sie vom Pferd, knöpfte den obersten Knopf an ihrem Nachthemd zu und vergewisserte sich, dass sie Hausschuhe anhatte.
»Bertie war nicht müde«, erklärte Nell. »Er wollte eine Geschichte hören.« Sie wandte sich an Em-ma, die diskret an der Tür stehen geblieben war.
»Erzählst du Bertie eine Geschichte, Emma?«
Emma fühlte sich von dieser Aufforderung völlig überrumpelt. »Also, ich …« Unsicher sah sie Peter an, der laut gähnte und sich die Augen rieb. »Ja, also gut, ich erzähl dir eine Geschichte, Nell. Peter, du gehst am besten gleich zu Bett.«
»Okay, Madam. Aber vergessen Sie nicht, Nell ein Glas Wasser ans Bett zu stellen. Bertie kriegt nämlich manchmal Durst.« Er winkte Emma, ihm zu folgen, und ging voran, vorbei an einer kleinen Kochnische, einem großen Badezimmer und einer Toilette. Vor zwei nebeneinander liegenden Türen blieb er stehen. Peter öffnete die rechte Tür, drehte sich aber noch einmal um und drohte seiner Schwester mit dem Finger. »Aber wirklich nur eine Geschichte«, erinnerte er sie, ehe er
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