Und der Wind bringt den Regen
Sonntags gab es Braten, montags kalte Hammelreste, dienstags Hackfleisch, mittwochs Gulasch, donnerstags Würstchen — bis in alle Ewigkeit. Nur war diesmal kein Taffy da, der ihr im Dunkel zuwinkte. Taffy war verschwunden -mit seiner Liebsten.
«Du, Walter», sagte Alice mit ungewöhnlich sanfter Stimme. Er sah sie argwöhnisch an.
«Was ist?»
«Frank kommt nach Hause», sagte sie. «Er hat es mir geschrieben.»
Schweigend gingen sie weiter. Der Schotter knirschte leise unter ihren Schritten. Sie spürte, wie der Arm, den er um sie gelegt hatte, erschlaffte. «So heißt es also Abschied nehmen, mein König», sagte sie.
Er verstand nicht. «Wieso König?» fragte er mürrisch.
«Shakespeare. Haben wir in der Schule gehabt.»
«Shakespeare! Ausgerechnet jetzt.»
Sie kamen unter eine Brückenwölbung, und er zog sie fester an sich. Seine Lippen suchten ihren Mund, aber sie machte sich los. «Nein, Walter - nicht.» Sie lief weg, und die Sterne tanzten über ihr. Er folgte ihr keuchend. «He - du kannst mich doch nicht einfach stehen lassen.»
Sie ging jetzt schneller. «Hör zu, Walter. Ich bin... nicht gerade stolz darauf, ich meine auf das, was ich getan habe. Aber etwas Gefühl habe ich doch noch, und ich muß jetzt versuchen, an Frank einiges gutzumachen — so gut ich eben kann. Ich hatte dich gewarnt, vor sechs Monaten schon.»
«Du hast mich also nur benutzt», sagte er bitter. Und sie erwiderte traurig: «Ich habe ja auch zugelassen, daß du mich benutzt.» Darauf ging er nicht ein. «Du glaubst doch nicht, daß ich dich jetzt so ohne weiteres aufgebe, oder?»
Sie verlangsamte den Schritt und sagte müde: «Walter, schau mich an. Ich bin mager und knochig. Wenn du dich umsiehst, findest du bestimmt eine, die ein bißchen mehr Fleisch auf den Knochen hat.»
«Stimmt, das dürfte nicht schwer sein.» Er war tief verletzt und suchte nach einer Revanche. «Und eine, die nicht so kalt ist wie du, Alice Dorman. Grad so gut könnte man mit ’ner Leiche ins Bett gehen.» Wieder waren sie an einer Brücke angelangt, und plötzlich begann er, breitbeinig die Böschung hinaufzuklettern. Keuchend kam er oben an; dann hörte sie, wie sich die eiligen Schritte auf der stillen Straße entfernten.
Sie zuckte mit den Schultern. Das Ende einer miesen Liaison. Ein mieser Mann. Und auch eine miese Frau? «Ja, ja, ja!» rief sie in die Nachtluft. An den schäbigsten Orten hatte sie mit ihm gelegen; unter Brücken, in dunklen Hintergassen. Eine treulose Frau. Und jetzt bereitete sie sich darauf vor, einen großartigen Mann, einen heimkehrenden Helden zu empfangen und sich während ihres gemeinsamen Lebens von der ganzen Qual und dem Schmutz der Kriegsjahre zu befreien. Frank, das hatte sie immer gewußt, würde ihrem Leben Sinn geben. Sie hatte zwar nur die Mittelschule besucht und das Erlernte nie richtig verarbeitet, aber sie war aufgeschlossen und wußte, daß Frank ihr Türen öffnen und sie zu ungeahnten Höhen führen konnte. Jahrelang war sie auf schlammigen Pfaden gewandert, jetzt - seit dem Augenblick, da Walter mühsam die Böschung hinaufgeklettert war — stand sie wieder auf festem Boden. Die Luft am Kanal war feucht und schal, doch sie atmete sie tief ein und füllte die Lungen wie jemand, der gerade aus dem Gefängnis kommt.
Später sagte sie zu Nell: «Ich hab mit Walter Schluß gemacht, Nell. Ich dachte, du würdest es gern wissen.»
Nells liebes rundes Gesicht strahlte. «O Alice, da bin ich aber froh.» Sie suchte nach Worten. «Er war doch — ich meine, er war deiner nicht würdig, Alice.»
Sie sah sofort, daß sie das Falsche gesagt hatte. Alice runzelte die
Stirn. «Nicht würdig? Es gibt niemand, der meiner nicht würdig wäre.» Sie starrte ins Feuer. «Ich bin eine Schlampe, Nell.»
Nell ging nicht darauf ein; wenn sie jetzt widersprach, machte sie alles nur schlimmer. «Willst du es Frank sagen?» fragte sie. (Früher hätte sie das nie zu fragen gewagt. Aber seit Weihnachten, seit Alices Rückkehr aus Scarborough waren sie einander nähergekommen. Nell betete ihre Schwägerin fast an, seit sie entdeckt hatte, daß Alice, die sie immer bewundert hatte, sie tatsächlich gern mochte.)
«Das mit Walter?» fragte Alice. «Nein.»
Nell blickte auf ihr Strickzeug. «Meinst du nicht, daß du es ihm sagen müßtest?»
«Nein.»
Bis vor kurzem hätte Nell es dabei belassen, doch allmählich kam sie zu der Erkenntnis, daß man nicht immer nachgeben durfte. «Wenn du’s ihm nicht sagst,
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