Undank Ist Der Väter Lohn.
stand, kramte sie aus ihrer Tasche die Liste der Angestellten des Hauses am Soho Square, die Dick Long ihr gegeben hatte. Die Namen waren in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, daneben der Name des jeweiligen Arbeitgebers, die dienstliche Telefonnummer und die Privatadresse und -telefonnummer.
Barbara überflog die Liste, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
King-Ryder Productions, las sie neben dem Namen an zehnter Stelle.
Bingo, dachte sie.
Shelly Platt wohnte nicht weit von Earl’s Court Station in einem Haus, in dem es keinerlei Sicherheitsvorrichtungen gab. Die Haustür stand offen. Als Lynley bei diesem Anblick beinahe automatisch stehenblieb, um sich das Türschloß anzusehen, stellte er fest, daß die Tür selbst zwar mit den nötigen Teilen zum Abschließen und den Vorrichtungen für einen elektrischen Türöffner ausgestattet war, der Rahmen jedoch irgendwann in der Vergangenheit gründlich beschädigt worden war. Daher fiel die Tür zwar noch zu, aber sie schloß nicht mehr. »Einbrecher herzlich willkommen«, hätte über der Tür stehen können.
Einen Aufzug gab es nicht; Lynley und Nkata mußten sich also bequemen, die Treppe zu nehmen, die sich am hinteren Ende des Korridors im Erdgeschoß befand. Shelly Platt wohnte im vierten Stock, was beiden Männern die Gelegenheit verschaffte, ihre Kondition zu testen. Nkata hatte die bessere, wie Lynley feststellte. Er mochte vielleicht früher einmal ein messerschwingendes Gangmitglied auf den Straßen Südlondons gewesen sein, aber seine Lippen waren niemals auch nur mit einem Hauch von Tabak in Berührung gekommen. Diese Enthaltsamkeit – ganz zu schweigen von der unerträglichen Jugend des Mannes – machte sich jetzt bemerkbar. Aber Nkata war so rücksichtsvoll, nicht darauf herumzureiten. Er ging in seiner Rücksichtnahme sogar soweit, daß er im Zwischenstock zur zweiten Etage haltmachte, um eine Aussicht zu bewundern, die keine war, und Lynley auf diese Weise eine Verschnaufpause zu gestatten, die dieser sich im Beisein seines Mitarbeiters eisern verkniffen hätte.
Im vierten Stock gab es zwei Wohnungen, eine zur Straße, die andere zum Hinterhof. Shelly Platt wohnte in der letzteren, einem kleinen Einzimmerapartment.
Sie mußten mehrmals klopfen, ehe sich drinnen etwas rührte.
Aber schließlich wurde die Tür bei scheppernder Sicherheitskette einen Spaltweit geöffnet, und ein verschlafenes Gesicht unter zerzaustem orangerotem Haar spähte hinaus.
»Hey, was gibt’s? Oha, ihr seid gleich zu zweit angerückt, was? Nichts für ungut, Sportsfreund, aber ich nehm’ keine Schwarzen. Hat mit Vorurteilen nichts zu tun. Ist nur ’ne Abmachung mit ’ner Kollegin, die langsam in die Jahre kommt. Ich kann dir ihre Nummer geben, wenn du willst.« Die junge Frau sprach mit dem ausgeprägt nasalen Akzent, der für die Leute aus der Gegend von Manchester typisch war.
»Miss Platt«, fragte Lynley.
»Ja, wenn ich bei Bewußtsein bin.« Sie grinste breit. Ihre Zähne waren grau. »Typen wie dich sieht man hier selten. Was schwebt dir denn so vor?«
»Eine kurze Unterhaltung.« Lynley zog seinen Ausweis heraus und schob reaktionsschnell den Fuß über die Schwelle, als sie die Tür zuschlagen wollte. »Kriminalpolizei«, sagte er. »Wir hätten Sie gern kurz gesprochen, Miss Platt.«
»Sie haben mich aufgeweckt.« Sie war plötzlich verdrossen.
»Kommen Sie später wieder, wenn ich ausgeschlafen hab.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie das wirklich wollen«, versetzte Lynley. »Womöglich stören wir Sie später, wenn Sie gerade beschäftigt sind. Das wäre sicher nicht gut fürs Geschäft. Also, lassen Sie uns jetzt bitte herein.«
»Ach Scheiße«, schimpfte sie. Dann löste sie die Kette, überließ es aber den beiden Männern, die Tür ganz zu öffnen.
Lynley stieß sie auf. Das Zimmer dahinter hatte nur ein Fenster, verhüllt mit einem jener Perlenvorhänge, die man gewöhnlich in Türdurchgängen hängen sieht. Eine Matratze auf dem Boden unter dem Fenster diente als Bett, zu dem Shelly Platt auf nackten Füßen schlurfte. Sie tappte über das Bett hinweg zu einem Häufchen Jeanszeug, das sich als Overall entpuppte, und zog ihn über das einzige Kleidungsstück, das sie trug: ein ausgewaschenes T-Shirt, auf dem das unverkennbare Gesicht des Straßenjungen aus Les Misérables abgebildet war. Sie klaubte zwei Mokassins zusammen und schob sie sich über die Füße. Die Schuhe waren einmal mit bunter Perlenstickerei verziert
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