Undank Ist Der Väter Lohn.
verzweifelt. Ich hätte sie einsperren und an ihrem Bett festbinden sollen, ich hätte sie keinen Moment aus den Augen lassen dürfen.
»Ich bin bei vollem Verstand«, hatte Nicola vor erst vier Tagen zu ihr gesagt. »Du weißt genau, daß ich nie eine Entscheidung treffe, die ich nicht von Anfang bis Ende durchdacht habe. Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt, und ich habe noch zehn Jahre Zeit. Na ja, vielleicht fünfzehn, wenn ich ein bißchen auf mich achte. Und ich habe die Absicht, sie in vollen Zügen zu genießen. Ich laß mir das nicht ausreden, du brauchst es also gar nicht erst zu versuchen, Mama.«
Nan hatte das so oft gehört. Von der Siebenjährigen, die unbedingt eine Barbie haben wollte, ein Barbie-Haus, ein Barbie-Auto, jedes einzelne Kleidungsstück für dieses kitschige Plastikgeschöpf, das als Inbegriff der Weiblichkeit hingestellt wurde. Von der Zwölfjährigen, die aufstampfend erklärte, sie wolle keinen Moment weiterleben, wenn sie nicht Make-up, Nylonstrümpfe und hochhackige Pumps tragen dürfe. Von der finsteren Fünfzehnjährigen, die einen eigenen Telefonanschluß verlangte, Inlineskates, einen Urlaub ohne Eltern in Spanien. Was Nicola gewollt hatte, hatte sie stets sofort gewollt. Und unendlich oft im Lauf der Jahre war es einfacher erschienen, ihr nachzugeben, als diese entsetzliche Angst um sie ausstehen zu müssen, wenn sie wieder einmal einen Tag, eine Woche oder vierzehn Tage verschwand.
Jetzt aber wünschte Nan aus tiefstem Herzen, ihre Tochter wäre wieder einmal nur ausgerissen. Und sie empfand quälende Schuldgefühle bei der Erinnerung daran, daß sie manchmal während Nicolas Teenagerjahren angesichts eines erneuten Verschwindens auch nur einen Moment lang den wahnsinnigen Gedanken gehegt hatte, es wäre besser gewesen, Nicola bei ihrer Geburt zu verlieren, als nicht zu wissen, wo sie war und ob sie überhaupt jemals wiedergefunden werden würde.
In der Waschküche des alten Hauses drückte Nan Maiden eine Baumwollbluse ihrer Tochter an ihr Herz, als könnte sich das Kleidungsstück auf diese Weise in Nicola selbst verwandeln. Ohne sich bewußt zu sein, was sie tat, hob sie den Kragen der Bluse an ihre Nase und atmete den Duft ein, der ihr Kind war, diese Mischung aus Gardenie und Birne von Creme und Shampoo, die Nicola benutzt hatte, den sauren Schweißgeruch eines Körpers, der an kräftige Bewegung gewöhnt gewesen war. Sie wußte noch genau, wann Nicola diese Bluse das letzte Mal getragen hatte: bei einem Fahrradausflug mit Christian-Louis an einem Sonntagnachmittag, nachdem alle Mittagsgäste bedient gewesen waren.
Der Franzose hatte Nicola immer attraktiv gefunden – welcher Mann hätte das nicht getan? –, und Nicola hatte das Interesse in seinem Blick bemerkt und nicht ignoriert. Das war ihre Begabung gewesen: die Männer mühelos anzuziehen. Sie tat es nicht, um sich oder anderen etwas zu beweisen. Es geschah ganz einfach, als besäße sie eine besondere Ausstrahlung, die einzig auf Männer wirkte.
In Nicolas Jugend hatte Nan sich wegen dieser erotischen Aus- Strahlung große Sorgen gemacht und mit Furcht daran gedacht, welchen Preis sie vielleicht von ihrer Tochter fordern würde. Und die erwachsene Nicola hatte, wie Nan nun wußte, den Preis schließlich bezahlt.
»Die Aufgabe von Eltern ist es doch, ihre Kinder zu eigenständigen Menschen zu erziehen und keine Klone aus ihnen zu machen«, hatte Nicola vor vier Tagen gesagt. »Ich bin selbst für mein Schicksal verantwortlich, Mama. Mein Leben geht dich nichts an.«
Warum sagen Kinder solche Dinge? fragte sich Nan. Wie konnten sie nur glauben, daß die Entscheidungen, die sie trafen, und das Ende, das ihnen beschieden war, lediglich sie selbst berührten? Wie sich Nicolas Leben entwickelt hatte, ging ihre Mutter allein schon deshalb etwas an, weil sie eben ihre Mutter war. Man brachte nicht einfach ein Kind zur Welt und verschwendete dann keinen weiteren Gedanken an die Zukunft dieses Kindes, das einem lieb und teuer war.
Und nun war Nicola tot. Nie wieder das unbekümmerte Türenknallen, wenn sie ins Haus stürmte, froh darüber, endlich Ferien zu haben. Nie wieder zu erleben, wie sie mit Einkaufstüten beladen hereinstapfte oder lachend und schwatzend von einer Verabredung mit Julian heimkehrte. O mein Gott, dachte Nan Maiden verzweifelt. Ihr schönes, temperamentvolles, unverbesserliches Kind – tot. Der Schmerz war wie ein eisernes Band, das sich immer fester um Nans Herz legte. Sie wußte, sie
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