Unheilig (Die Chroniken der Schatten) (German Edition)
Über ihre Vergangenheit war wenig bekannt. Man wusste nur, dass sie über Kräfte verfügte, welche die der meisten Vampire bei Weitem überstiegen.
Sie hatten den Gipfel des Berges fast erreicht. Ganz oben, am höchsten Punkt des Monte Prado, befand sich Gerüchten zufolge einer der vielen Sitze des Vampirs Marius. Angeblich lebte er dort zu Zeiten von Konstantin und terrorisierte des Nachts die Menschen am Fuße des Berges und in den Provinzen. Lange Zeit hatte dieses Gebiet kein Vampir oder Sterblicher mehr betreten und Ademar war sich nicht sicher, ob sie das einstige Anwesen überhaupt noch finden würden. Wahrscheinlich war es durch Stürme schon längst zerstört oder von Schnee verschüttet worden. Doch dies war nur einer der wenigen Orte, von denen sie wussten, dass Marius sich dort in historischer Zeit aufgehalten hatte. Andere Orte kannte man kaum - außer dem Tal der Könige in Ägypten und Glastonbury in England. Diese Gebiete wurden von anderen Ratsmitgliedern aufgesucht und nach Spuren durchkämmt.
Ademar blickte gen Himmel und kniff dabei die Augen zusammen. Dieser Ort war ihm nicht geheuer. Er sah zurück auf William und Illyria, die sich gut fünfzig Meter hinter ihm durch den hohen Schnee kämpften. Vor ihnen tauchte schon bald das Gipfelkreuz auf, doch von einem Gebäude gab es nicht die geringste Spur. Ademar ließ seine Hände über das bronzene Kreuz gleiten und sog dessen Geruch ein. William stand neben ihm, mit finsterer Miene und einem zornigen Blitzen in den Augen.
„All die Mühe umsonst“, knurrte er mit seinem starken ungarischen Akzent. „Hier oben ist nichts. Hier ist nie etwas gewesen! Amelie hat uns zum Narren gehalten.“
„Sei vorsichtig mit deinen Worten“, warnte Ademar. „Und wage es nicht noch einmal, so von unserer Herrin zu sprechen. Sie weiß Dinge, die uns auf ewig verborgen bleiben. Maße es dir nicht an, über sie zu urteilen.“
William schwieg, machte aber immer noch ein mürrisches Gesicht. Ademar ignorierte ihn und schmiegte seine Hände ganz fest an das metallische Gipfelkreuz.
„Marius war hier“, sagte er leise und seine Finger glitten an den scharfen Kanten entlang. „Vor sehr langer Zeit. Ich spüre es. Ich kann seine Aura ganz schwach wahrnehmen. Sein Geruch ist flüchtig, aber dennoch vorhanden.“
Ademar war genauso alt wie Amelie und fast ebenso stark, jedoch stammte er von französischen Adelsvampiren ab, während Amelies Blutlinie direkt zu Marius verlief. Das machte sie mächtiger als ihn, nicht zuletzt, weil sie eine Frau war und die meisten weiblichen Vampire waren stärker als die männlichen. Warum das so war blieb allerdings seit jeher ungeklärt. Man vermutete die Antwort beim Ursprung der vampirischen Rasse.
„Wenn er hier war, wo ist dann sein Anwesen?“, fragte William. „Ich kann weit und breit nichts als Schnee und Felsen sehen.“
Illyria ging in die Knie und tauchte ihre Hände in den kalten Schnee. Sie fuhr sachte darüber, hob schließlich eine Handvoll auf und hielt sie gegen das Licht. Ademar und William beobachteten sie mäßig interessiert. Sie war eine sehr seltsame Frau, selbst für einen Vampir, und sie sprach nur dann, wenn es absolut notwendig war. Meistens hüllte sie sich in Schweigen und ließ alles an sich vorbeiziehen, versunken in ihre eigene Welt, ohne äußerliche Einflüsse, nur mit sich selbst verbunden. Dennoch hatte sie ein sehr feines Gespür für die Vergangenheit und besaß die seltene Fähigkeit, in die Gedanken anderer einzutauchen. Das machte sie für andere Vampire sehr gefährlich, da sie ihre tiefsten Ängste ergründen und ihr ganzes Dasein manipulieren konnte. Selbst Ademar zollte ihr Respekt. Außerdem war sie wunderschön, hatte sehr helle, nahezu weiße Haut, kupferrote Locken, die ihr fließend bis über die Hüften wallten und blasse graue Augen, die immer ein wenig traurig zu sein schienen. Ihr weißes, spitzenbesetztes Baumwollkleid war bereits feucht durch den Schnee, doch sie störte sich nicht daran, sondern ließ die geschmolzenen Eiskristalle in ihrer Hand an ihrem Unterarm hinablaufen und roch intensiv und mit geschlossenen Augen daran. Sie reckte das Gesicht zum Himmel und öffnete dabei leicht die Lippen.
„Unter uns“, sagte sie kaum hörbar.
Ihre Stimme klang fern und hallend, als ob sie in einer Kathedrale stünden.
„Unter uns...“,
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