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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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schnaubte nur und betrachtete den Park, interessierte sich plötzlich sehr für die Jogger, die an ihnen vorbeiliefen. Sie saßen auf einer Bank im Cannon-Park, gegenüber der Highschool, und aalten sich in der Septembersonne. Den Knochen etwas Ruhe gönnen, wie sein Großvater dazu sagte. Er war fünfundvierzig Jahre lang Polizist gewesen und hatte sich die meiste Zeit die Hacken abgelaufen. So nannte er das immer: die Hacken ablaufen . Er hatte nie einen Streifenwagen gefahren, war immer zu Fuß Streife gegangen. Das fehlt heute auf der Welt, pflegte er zu sagen, es gibt nicht genug Polizisten auf dem Bürgersteig. Man sollte sie aus ihren Streifenwagen holen und auf die Bürgersteige schicken.
    »Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, es war jemand von innen«, sagte sein Großvater jetzt. Er streckte die Beine aus, faltete die Hände über seinem kleinen, runden Bauch und schloss die Augen.
    Der Rächer hoffte, dass er ein Nickerchen machen würde. Das tat sein Großvater zu jeder Tages- und Nachtzeit, glitt ohne jede Vorwarnung in den Schlaf hinüber.
    »Was meinst du damit, jemand von innen?« Kaum waren die Worte aus seinem Mund, bereute er die Frage auch schon, denn er hatte eine ganz gute Vorstellung davon, was jemand von innen bedeutete.
    »Das heißt, dass jemand das Stück von innen gestohlen hat«, sagte sein Großvater, »jemand aus der Wohnung. Aber auch das ist wieder un-möglich. Ich wohne ja ganz allein hier.«
    »Vielleicht ein Gast?«, sagte der Rächer und verzog das Gesicht. Warum konnte er nicht den Mund halten?
    »Unwahrscheinlich«, sagte sein Großvater. Seine Stimme klang schwach. Es war, als entschwebte er, vielleicht zu seinem Nickerchen. »Bei mir gibt es alles in allem nur vier Räume. Das Stück war im Wandschrank versteckt. Die Munition befand sich getrennt davon in einer anderen Schachtel. Ein Besucher hätte es nie im Leben geschafft, gleich zwei Kartons hinauszuschmuggeln. Es sei denn …«
    Seine Stimme wurde noch schwächer, und kurz darauf ertönte ein zarter Schnarcher, der die Schnurrbartspitzen erzittern ließ. Der Rächer stieß ein leises »Puh …« aus, froh darüber, dass die Unterhaltung vorbei war. Aber als er die Beine von sich streckte, obwohl sie kaum bis zum Boden reichten, runzelte er die Stirn.
    »Allerdings ist mein Gedächtnis nicht mehr so wie früher«, sagte sein Großvater. Der Rächer, der geglaubt hatte, dass er tief und fest schlief, fuhr erschrocken zusammen. Sein Großvater sprach, ohne die Augen zu öffnen, die Hände über dem runden Bauch gefaltet. »Vielleicht habe ich aus Versehen einmal doch nicht abgeschlossen. Vielleicht ist ja doch jemand hereingekommen.« Eine Weile herrschte Schweigen. »Heutzutage kann man niemandem mehr trauen. Es hätte jeder …« Seine Augen waren immer noch geschlossen.
    Jeder . Das Wort hallte in seinem Kopf wider, so wie zuvor von innen in ihm nachgeklungen war.
    Er versuchte, den Satz zu Ende zu führen: Es hätte jeder … x-Beliebige sein können. Es hätte jeder sein können – sogar du!
    Der Rächer sprang auf, so erschrocken, als hätte sein Großvater diese Worte tatsächlich ausgesprochen, hätte ihn beschuldigt. Aber der alte Mann hielt sein Schläfchen, die Augen geschlossen, und der Atem fuhr rasselnd durch den leicht geöffneten Mund.
    Der Rächer schloss seinerseits die Augen und zwang sich dazu, still auf der Bank sitzen zu bleiben, obwohl seine Nase sofort zu jucken begann. Er kratzte sich nicht. Er regte sich nicht, bewegte noch nicht mal die Lider. Er saß da und dachte: jeder , bis sein Großvater hustend und schnaubend erwachte.
    Schweigend verließen sie den Park.
    Das Schweigen hielt auf dem ganzen Heimweg an und war noch schlimmer als das Wort jeder . Als sein Großvater sich an der Ecke Spruce und Elm Street verabschiedete, wuschelte er dem Rächer nicht durch die Haare und tätschelte ihm auch nicht den Kopf, wie er es sonst immer tat.
    Als Buddy von der Schule nach Hause kam, klingelte das Telefon. Er warf seine Bücher auf die Couch im Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Dann tat es ihm leid, dass er abgenommen hatte. Harry war dran.
    »Willst du ’eute ein bissschen Spaß ’aben, Bud-die?«
    Diese kühle, einschmeichelnde Stimme, diesmal mit französischem Akzent.
    »Heute nicht«, gab Buddy zurück und räusperte sich vorher, damit seine Stimme einen festen Klang bekam. Die Verwüstung, die sie in diesem Haus angerichtet hatten, bereitete ihm Schuldgefühle, und er

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