Unsterbliches Verlangen
»In diesem Sinne: Wenn Sie alle mich entschuldigen wollen, ich werde mich zu Bett begeben.«
»Ach, Marcus, warten Sie!« Pru stand auf. »Ich würde Sie gern einen Moment sprechen.«
Sie drehte sich um und nickte in Chapels Richtung, um sich für ihre Bemerkungen zu entschuldigen, die ihn merkwürdigerweise beleidigt zu haben schienen, aber er war nicht da. Als Pru aufblickte, sah sie gerade noch, wie er durch die Terrassentüren nach draußen ging. Er wollte offenbar seine abendliche Zigarette rauchen.
Entweder das, oder er stimmte nicht mit ihr überein, dass Severians Marie ein dummes Weibsbild war.
Kapitel 11
Im Laufe der nächsten zwei Abende sah Pru nicht viel von Chapel. Er war beim Dinner dabei, unterhielt sich mit ihr, als wäre nichts vorgefallen, kam jedoch nicht mehr in die Bibliothek – jedenfalls nicht, solange Pru dort war.
Er mied sie, und sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob er seine Nächte mit der kecken kleinen Magd verbrachte. Ihr Herz sagte ihr, dass dem nicht so war, dass es keine andere Frau war, die ihn von ihr fernhielt, aber ihr Verstand hatte seine liebe Mühe, das zu glauben.
Andererseits könnte der Grund, weshalb er sie mied, allein bei ihr liegen - wenngleich sie keine Ahnung hatte, was sie tat, das ihn dazu veranlasste.
Nun, bei längerem Nachdenken fielen ihr zweierlei Gründe ein: Der erste war, dass sie ihn langweilte und er deshalb aufhörte, sie zu umwerben. Der zweite war, dass er ihr die Bemerkung zu seiner Geschichte im Salon zwei Abende zuvor übelnahm.
Von beiden schien ihr der erste wahrscheinlicher, auch wenn sie ihn nicht recht glauben wollte.
Vielleicht war es ihre Krankheit, die ihn abschreckte. So ungern sie das von ihm dachte, war es doch verständlich, wäre dem so. Blut konnte manche Menschen sehr abschrecken oder gar ängstigen.
Oder, dachte sie, während sie ihre Ohrringe ansteckte, nichts hatte etwas zu sagen. Vielleicht bedeutete seine Haltung ja nur, dass er weniger angetan von ihr war, als sie sich gern einbildete.
Das war die enttäuschendste aller Möglichkeiten, aber weniger endgültig als die anderen, die ihr einfielen. Warum sollte sie ihre Zeit damit verschwenden, ihn zu einem Schurken oder Wüstling zu machen? Das Schlimmste, was geschehen konnte, war, dass ihr das Herz gebrochen wurde, und ein gebrochenes Herz war in ihrer Situation wohl kaum eine Tragödie.
Im Gegenteil: Sie würde sich mit Freuden das Herz brechen lassen. Zwar wusste sie nicht, wie es sich anfühlte, aber sie hatte darüber in Romanen und Gedichten gelesen und erfahren, dass diese Symptome gewöhnlich großer Leidenschaft und Romantik folgten.
Beides war ein bisschen Schmerz wert, oder nicht?
Warum konnte ihre Leidenschaft sich nicht auf Marcus richten? Warum mussten sie beide nichts als Freunde bleiben? Sie und Marcus hätten seit Monaten eine Affäre haben können. Sie kannte Marcus und wusste genau, was er fühlte oder dachte.
Aber es war nicht Marcus, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Er war es nicht, mit dem sie die langen Abende verbringen wollte, an denen sie nicht schlafen konnte - oder wollte. Nein, sie wünschte sich Chapel. Dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, lag wohl zum Teil daran, dass er sie wie einen Menschen behandelte, nicht wie ein minderwertiges Wesen. Und ebenso wenig behandelte er sie wie eine Kranke. Guter Gott, lass ihn jetzt bitte nicht damit anfangen!
Heute sollte die kleine abendliche Party stattfinden, die wegen ihrer Krankheit verschoben worden war, und sie hatte sich extra so gekleidet, dass sie Chapels Aufmerksamkeit erregen würde.
Ihre Abendrobe bestand aus einem matten teefarbenen Satinunterkleid mit einem Überkleid aus gleichfarbigem plissierten Chiffon. Das Oberteil war zusätzlich mit elfenbeinfarbener Spitze versehen, die das Dekollete sehr anmutig umrahmte. Die kurzen angeschnittenen Ärmel waren ganz aus Chiffon.
Der Ausschnitt war recht tief, und ihr Busen wurde von dem engen Mieder gehoben. Als ihre Zofe sie in ihr Korsett einschnürte, betete Pru im Stillen, dass sie heute Abend keine weitere Schmerzattacke erleiden würde. Bisher fühlte sie noch keinerlei Beeinträchtigung.
Sie legte eine Perlenkette an, denn blassgoldene Perlen schimmerten im Kerzenlicht und ließen ihre Haut wie Alabaster aussehen. Auch an den Ohren trug sie Perlen. Ihr Haar war lose zu einem kunstvollen Knoten aufgesteckt, der zwar den Anschein erweckte, sich jeden Moment lösen zu können, es aber gewiss nicht täte.
Ja, sie
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