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Unter den Linden Nummer Eins

Unter den Linden Nummer Eins

Titel: Unter den Linden Nummer Eins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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schwingen, wenn ›Herr Meier‹ so weitermacht. – Wir beziehen neuerdings Ware aus Grusinien.«
    Göring hatte großspurig verkündet, er wolle »Meier« heißen, wenn nur ein einziges feindliches Flugzeug in den deutschen Luftraum eindringen sollte, um ein Ziel im Reich zu bombardieren. Jetzt baute die Organisation Todt vor dem Adlon einen mehrstöckigen Tiefbunker mit Notausgängen, die bis in den Tiergarten reichten. Die Grüße der Royal Air Force fielen mittlerweile immer regelmäßiger auf die Reichshauptstadt. Auch der Kaiserhof bekam unterirdische Schutzräume.
    Der Ofen zog schlecht. Karl rollte einen Fidibus aus dem Zeitungsrest. Rosenbergs Lebensraum-Thesen verbrannten ungelesen. Endlich bullerte der Ofen.
    Vera brühte den Tee auf und schaltete den Volksempfänger ein. Radio Leipzig spielte Marschmusik. »Wie spät ist es?«
    »Noch fünf Minuten.«
    Karl wusch sich die Hände, Vera knöpfte den Mantel auf und goß den Tee um.
    »Stell es leiser«, sagte Karl und rückte zwei Stühle vor den Volksempfänger.
    Vera drehte am Lautstärkeknopf, dann suchte sie die BBC London. Karl stellte zwei Tassen neben das Radio.
    »Deutsche Hörer!« Thomas Manns Stimme klang verzerrt. Die Störsender im Großraum Berlin waren leistungsstärker geworden.
    »Im Adlon haben sie alle Skalen in den Empfängern ausgetauscht. London kriegt man damit nicht mehr rein.«
    Sie waren ständig im Hause zugange: Burmeisters Truppe, die Techniker vom Propagandaministerium, Bautrupps der Organisation Todt, und auch die Rothaarige war wieder aufgetaucht.
    »Verstehst du, was er sagt?« Vera hielt das Ohr gegen den Lautsprecher.
    Karl schüttelte den Kopf. »Ich höre es eigentlich bloß noch pfeifen.«
    »Mist, mit einer großen Antenne wäre es besser.«
    »Selbst wenn wir nur eine kleine Richtantenne auf dem Balkon anbringen würden, die nach Westen zeigt, ich schwöre dir, wir würden uns in Null Komma nichts in der Prinz-Albrecht-Straße oder in Oranienburg wiederfinden.«
    Vera schaltete das Radio aus. »Mutter sagt, sie haben einen aus der Kühnemannstraße verhaftet, weil er in der Kneipe einen Gandhi-Witz gerissen hat. – Kennst du den Unterschied zwischen Indien und Deutschland?«
    »Nein, erzähl mal!«
    »Nun: In Indien hungert einer für Millionen, in Deutschland hungern Millionen für einen.«
    »Im Adlon erzählt niemand mehr laut politische Witze. Die Gestapo sperrt jeden Tag ein paar Zimmer, und wenn die Techniker gegangen sind, kann man sicher sein, daß sie wieder ihre Abhörvorrichtungen installiert haben. Mal hinterm Schrank, mal unterm Bett. Kurz vor dem Molotow-Besuch haben sie sogar Kabel in den Bunker gelegt.«
    »Und was hat die Rothaarige mit allem zu tun? Du sagtest irgendwann, sie sei wieder bei euch gewesen.«
    »Sie geht neuerdings ständig ein und aus. Sie kommandiert die zwei Drachen, die Leibesvisitationen bei den Zimmermädchen vornehmen, wenn Staatsgäste bei uns logieren oder der Dolmetscherdienst uns beehrt. – Sie heißt übrigens auch Burmeister.«
    »Ist es seine Frau?«
    »Nein, seine Schwester. Klempert hat es rausgekriegt.«
    »Ein reizendes Geschwisterpaar!« Vera schaltete das Radio wieder ein.
    Der Deutschlandsender kündigte Weihnachtssonderrationen an. Für Kinder war eine Extrazuteilung in Form von Schokolade oder Bonbons vorgesehen. Dann wurde Stille Nacht, heilige Nacht gesungen.
    Stille Nacht, heilige Nacht,
    Alles schläft, einsam wacht
    Adolf Hitler für Deutschlands Geschick,
    Führt uns zu Größe, zu Ruhm und zum Glück,
    Gibt uns Deutschen die Macht
    »Manchmal möchte ich das Radio zertrümmern!« Vera riß den Stecker aus der Dose. »Diese Schweine!«

3.
    D ER ›A DLON ‹ - B UNKER UNTER DEM P ARISER P LATZ
    Karl stand auf und bot dem jungen Mann seinen Sitzplatz an. Der Mann trug eine Leutnantsuniform der Panzertruppen. Er dankte und setzte sich. Die Krücken lehnte er gegen die Abteilwand. Die S-Bahn fuhr in den Tunnel. Das Gesicht des Mannes spiegelte sich in der Fensterscheibe. Es war schmal und faltig. Dem jungen Mann fehlte ein Bein. Zwei Frauen im Waggon waren schwarz gekleidet. Sie waren in Veras Alter. Gefallen für Führer und Vaterland – die Todesanzeigen in den Zeitungen füllten Seiten.
    Den Blitzkrieg im Westen hatten viele als eine Art Spaziergang wahrgenommen. Braungebrannte Helden waren nach der Kapitulation Frankreichs durch das Brandenburger Tor marschiert. Und die Berliner hatten ihnen begeistert zugejubelt. Karl hatte die Siegesparade vom Adlon

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